„Eine Utopie zu formulieren, ist schon fast ein Luxusproblem.“

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Anlässlich der YOUKI 12 gastiert der renommierte Pop-Theoretiker und frühere Herausgeber der SPEX Diedrich Diederichsen in Wels. Mit Beat Weber und Peter Schernhuber sprach er über angebliche Blackberry-Verbote, Flummiball-Existenzen und die Notwendigkeit einer kohärenten Gesellschaftskritik.

Immer wieder werden in der Werbung rebellische Motive aufgegriffen  zuletzt wurde von einem Mobilfunkbetreiber an der Uni zu Protest gegen ein angebliches Blackberry-Verbot aufgerufen. Wieso machen die das, wo doch alle Studien ergeben, dass die heutige Jugend eher konservativ als rebellisch ist?
Ich könnte mir vorstellen, dass sich diese Werbung an Jugendliche der oberen Mittelschicht richtet, wo Rebellion sehr wohl noch ein Wert ist. Das heißt nicht mehr Rebellion, dafür gibt es dann andere Worte. Nach wie vor gibt es aber ein großes Segment an protopolitisierten Jugendlichen. Auch sol­­che also, wo noch nicht ganz klar ist, was für eine Art von Politik sie eigentlich meinen oder wo es politisch hingehen soll, bei denen Protest aber eine Rolle spielt. Das hat oft damit zu tun, dass in bestimmten bürgerlichen Mittelschichten das Politisch-Sein ein Wert ist, der dann nach bestimmten For­men verlangt: körperlicher Einsatz, Konfrontation mit der Staatsmacht und andere.

Zielgruppenspezifische Maßnahmen also?
Würd’ ich vermuten. Mal abgesehen davon, dass es schon lange so ist, dass irgendwelche Produkte „Revolution“ oder „Subversion“ heißen und dass das Eingang in Werbung und Produktdesign findet. Man könnte sich auch noch etwas anderes vorstellen: Konfrontation mit der Staatsmacht, das heißt ja gar nicht mehr Rebellion, das heißt Nostalgie oder gute alte Zeit. Es gibt einen anderen Spot, in dem eine Rainer-Langhans-Figur zu Kommune-I-Zei­ten gegen Konsum hetzt. Unter den anderen Kommunarden findet sich eine Frau, die sich neue Schuhe kauft, die Uschi-Obermayer-Entsprechung eben. Auch da ist das Motiv der Rebellion, zwar lächerlich, erscheint aber als at­tra­ktiver, vertrauter Zusammenhang. Auch das bezieht sich auf einen Fun­dus an vertrauten Bildern.

Aber da wird ja nicht der Akt des Konsums als Rebellion verkauft, sondern es bedient bloß eine bildliche Behübschung.
Meine Vermutung ist, dass es ja im anderen Fall auch nicht so ist. Auch da wird nur bebildert. Die Frage ist, ob es nur ein Bild ist, das man übersetzen muss in „Rebellion ist geil und deshalb will ich so einen Blackberry“ oder „Wir müssen unser Produkt als eine Geschichte erzählen und was nehmen wir als Hintergrund?“ Ein vertrautes Szenario, das gerade im Gespräch ist; etwa: Kommune I, Uni-Proteste – das lässt sich doch parallelisieren.

Bleiben wir bei Protestbewegung: Gerade in Deutschland scheint es eine In­fla­tion des Protests zu geben; die Jungle World titelt etwa: Deutscher Herbst 2010. Aktuelle Protestbewegungen scheinen als ob sie Dinge vereinen, die nicht zu vereinen sind; als hätten sie ihre Utopien schon längst eingebüßt; als wäre Rebellion bürgerlich vereinnahmt. Wie steht es um das Verhältnis zwi­schen Utopie und Rebellion?
Das, was den verschiedenen Protesten, die „nicht zusammengehören“ fehlt, auf die sich auch die „Jungle World“ bezieht, ist nicht unbedingt eine Uto­pie, sondern Gesellschaftskritik. Man muss aber nicht unbedingt eine Uto­pie haben, um in der Lage zu sein, Gesellschaftskritik zu formulieren. Eine Utopie formulieren zu können, ist fast schon ein Luxusproblem. Ein Erstes zur politischen Mobilisierung wäre eine kohärente Gesellschaftskritik. Leu­te, die irgendwie Angst vor Schulreformen in Hamburg haben auf der einen Seite, Stuttgart 21 auf der andern Seite – all’ diese Leute haben ja keine Ge­sell­schaftskritik.

Also im Prinzip die Umkehrseite vom dem nach unten Treten; das Motiv des „Sozialschmarotzers“, diesmal artikuliert auf „die da oben“, die sich plötzlich Macht nehmen, von denen die Protestierenden glauben, dass sie ihnen zu­steht.
Ja, womöglich, wobei ich das Verhalten gar nicht bewerten will. Klar, in dem Moment, wo es sich politisch äußert, kann man es bewerten. Zunächst mal geht es aber viel eher um die Frage, was fehlt? Was ist es nicht? Und da kann man, glaub’ ich, nicht einfach sagen, dass es um die Umkehrung der üblichen Herrschaftsverhältnisse, des üblichen Ressentiments geht, weil „die da oben“ mittlerweile selbst so handlungsunfähig sind, dass man sie be­handeln kann, wie jene „da unten“ gegen die es normalerweise geht. Das ist viel zu moralisch. Entscheidend ist, dass das störende Einzelphänomen nicht in eine kohärente Gesellschaftskritik eingetragen werden kann. Das liegt natürlich auch daran, dass die politischen Parteien, die dann die Ka­na­lisierung dieser Dinge anbieten, selbst nicht mehr als Platzhalter von Ge­sellschaftskritik oder Gesellschaftsbildern auftreten, sondern selber atomisiert sind. Dadurch machen sie sich nur noch für populistischen Protest zu­gänglich. Deswegen kommt man auch gar nicht auf die Idee, Gesell­schafts­kritik zu formulieren, weil man es ja mit einem Gegenüber zu tun hat, das seinerseits gar kein bestimmtes gesellschaftliches Denken formuliert. Der CDU-Mann in Hamburg etwa vertritt ja selbst kein kohärentes Gesell­schafts­­bild, dem man etwas entgegensetzen könne, sondern ist selbst eine atomisierte, ungebundene Flummiball-Existenz.

Zum Thema Jugend: Seit den 90ern wird das Ende spezifischer Jugend­kul­tu­ren gesprochen, alle seien irgendwie crossover und kommerzialisiert. Die Kro­cha in Wien haben zuletzt gezeigt, dass das vielleicht doch nicht so ist. Kommt nach dem allgemeinen Mischmasch wieder eine Besinnung auf Tribes mit starker Stilabgrenzung oder ist das Zeitalter endgültig verloren?
Auf Pro7 gibt es ein Format, bei dem Pärchen aus jeweils zwei antagonistischen jugendkulturell markanter Tribes gegenüber gestellt werden. All die Charaktere, die auftauchen, scheinen wie Vertreter von Moden, die man be­reits kennt, jedoch noch einmal zugespitzt. Wenn etwa ein ansonsten im klas­sischen Sinne perfekter Rock’n’Roller zusätzlich Tunnelohrringe hat und die Rock’n’Rollerin im Petticoat auch noch Gesichtspiercings hat. Die Kons­tante bei allen Charakteren ist der Bezug auf alte Modelle, jedoch nochmals spezialisierter und verfeinert. Dennoch wirkt der Style als sei er von den Eltern geerbt. Die ersten gestylten Rock’n’Roller in Europa etwa gab es in den 70ern. Auch sie waren bereits Nostalgie auf jene Rock’n’Roller der 50er Jahre; entsprechend wurde es mit den neuen Teds der späten 70er und den Psychobillies der mittleren 80er fortgesetzt. All diese Sachen akkumulieren zu einem quasi folkloristischen Wissen, das nirgendwo als Allgemeingut ver­breitet ist, jedoch sehr wohl seine Communities hat, wo es auch vererbt wird. Natürlich bedeuten diese Tribes keine Provokation mehr für formierte und uniformierte Gesellschaften. Diese Jugendkulturen sind etwas wie eine eingeführte, akzeptierte Form von Freizeitgestaltung. Was von den al­ten Jugendkulturen als Strukturelement bleibt, ist dass eine bestimmte Äs­thetik und Geschmacksentscheidungen als Bindglied für das Soziale fungie­ren und identitätsstiftend wirken.

Krocha wurden in den Medien eher belächelt und überheblich als Unter­schichts-Deppen abgetan. Ist die abfällige Behandlung proletarischer Jugend­kul­turen eine historische Konstante oder waren Jugendbewegungen früher von der Klassenherkunft durchmischter?
Sehr oft ist die Rede über Jugendkultur der Versuch, den Klassendiskurs zu vermeiden. Nicht, um ihn zu überwinden oder seine Probleme zu lösen, son­dern um ihn nicht zu markieren. Es geht um die Ausblendung eines immanenten Klassendiskurses. Die Auseinandersetzungen beschäftigen sich et­wa mit Wertedifferenzen, was immer noch unterstellt, dass eine allgemeine Diskussion über Werte schon stattfindet und alle daran das gleiche Inte­resse haben, aber kein viel fundamentalerer Dissens vorliegt, wie er in den 50er, 60er Jahren Thema war, als es um Nazi-Vergangenheit und Klassen­kampf ging.

Das Zweite ist, dass in den großen mythischen Momenten, auf die sich dann gerne bezogen wird, tatsächlich Erfahrungen gemacht werden konnten, in denen Klassendifferenzen vorübergehend ausgeblendet waren, das wäre auch der einzige utopische Moment, den ich Jugendkulturen zugestehen würde.

Ansonsten gibt es die Konstante, dass die bürgerliche Seite dann besonders böse wird, wenn ihr der proletarische Koalitionspartner verloren geht. Beim Auseinanderbrechen des Punks zum Beispiel, als ein Teil Saufpunk oder Skin wurde und der Klassendiskurs auf eine politische Auseinandersetzung um­gelenkt wurde, die natürlich in ihrer politischen Abgrenzung durchaus be­rechtigt war, aber dennoch diese Funktion erfüllte.

Ähnlich könnte ich mir vorstellen, dass das Kenntlichmachen, das öffentlich Debattieren des Krocha-Phänomens damit etwas zu tun hat, dass nicht lan­ge davor eine Rave-Kultur auseinander gebrochen ist, die in ihren frühen Jah­ren in der Lage war, Klassenunterschiede einzuebnen.

Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es einen Unterschied. Früher gab es nämlich eine Publizistik, die zwar nicht hegemonial, aber dennoch bedeutend war, die sich dem proletarischen Jugendlichen widmete. Es gab eine so­zialdemokratische bis kommunistische Publizistik, die sich um proletarische Jugendliche Sorgen machte; nicht zuletzt um die Partei als bessere Al­ter­na­tive zur Jugendkultur anzubieten; aber zumindest waren proletarische Ju­gend­kulturen Teil der Auseinandersetzung.

Dass das Krocha-Phänomen mit dem Auseinanderbrechen der Rave-Kultur in Verbindung gebracht werden kann, ist interessant, zumal Krocha ja aus eben den Großraumdiscos kommt, die von der Rave-Kultur als Wurmfortsatz, als kom­merzielle Ausdünnung verschmäht wurden. Das muss ja auch gerade für das poststudentische Bewusstsein der Feuilletons kränkend sein.
Das könnte sein, ist jedoch zweischneidig. Die Kritik der bürgerlichen Ju­gendlichen an proletarischer Jugendkultur – Sexismus etwa – ist ja, obwohl diese Kritik zugleich einen kulturellen Klassenkampf von oben führt, nicht falsch. Das mag im Krocha-Fall weniger so sein, beim Aufstieg der Atzen in Deutschland etwa ist es genau das. Das kann schon auch als eine Kultur sexueller Gewalt gelesen werden.

Noch kurz zur Rolle von Musik und Jugendkultur: Wenn Pop immer mit „Mo­dellen eines anderen Lebens“ verknüpft war, Musik und Pop aber für heutige Jugendkultur ihren Status eingebüßt haben, treten dann auch Utopien in den Hintergrund?
Ich frage mich, ob Utopien als Lebensmodelle je eine so starke Rolle in Ju­gendkulturen gespielt haben oder, ob es nicht viel eher um eine Ab­gren­zung zu aktuellen Lebensmodellen ging; von wenigen Momenten abgesehen. Techno hat ja deshalb die endlose Form des Raves entwickelt, der nie enden sollte, weil danach nichts kommt, außer der nächsten Party. Die sollte eben gerade nicht auf etwas anderes, etwas Utopisches verweisen, sondern war die Sache selbst. Es ging immer darum, unter den vorherrschenden Bedingungen Schutzräume einzuziehen, um die allgemeinen Zumu­tun­gen der Lebensverhältnisse zu ertragen. Nun ist das Gegenüber aber heute so undefiniert, dass es schwer wird auf einer le­bensweltlichen Ebene eine Ge­genkultur zu arti­ku­lieren. Das Gegenüber droht eh, mit fliegenden Fah­nen überzulaufen. Ich habe etwa keine einzige Reaktion auf den Uni-Akti­ons­tag gelesen, die nicht mit „Ich habe volles Verständnis“ beginnt. Es stellt sich die Frage, wie lange man es sich bieten lässt, dass das Gegenüber Ver­ständnis formuliert und zugleich eine Politik betreibt, die der Aussage komplett widerspricht. Wie soll man sich von vollem Verständnis distanzieren? Das unterscheidet uns von früher. Was, wenn etwa beim massiven Spar­pa­ket der britischen Regierung wie­der volles Verständnis auf die Proteste folgt, wird es auch so sein, dass man nicht antworten kann oder übersetzt sich der Druck der Zumutungen in etwas, das dem Gegenüber die Qual­len­haftigkeit entzieht, sodass da wieder eine Gestalt ist. Das ist aber nicht die Utopie, sondern der Gegenentwurf: das kritische Modell. Intellektuell ist es nicht schwer, sich auch über die heutige Situation kritisch zu verständigen, aber es ist schwer diese Kritik in der Lebenswelt plausibel zu machen. Um 1970 war es hingegen kein Problem, eine au­toritäre Person zu erkennen. Die Plausibilität in der Lebenswelt herzustellen, das ist das, was fehlt.

Danke.

„Die Frechheit zu träumen – Utopie und Jugendkultur“
Diedrich Diederichsen im Gespräch mit Petra Erdmann (ORF, FM4)
Mittwoch, 17. November 2010, 18.00 h, Medien Kultur Haus Wels
www.youki.at

YOUKI – Internationales Jugend Medien Festival
16.–21. November 2010, Wels
Das praxisbezogene Festival mit dem traditionelle YOUKI-Filmwettbewerb werden wie jedes Jahr um theoretischen Input ergänzt. Beim YOUKI Media Meeting darf analysiert, diskutiert und auch mal gestritten werden, hier wird der Blick hinter die Kulissen geboten. Das Media Meeting 2010 wird unter dem Titel „Die Frechheit zu träumen – Utopie und Jugendkultur“ geführt und hat Diedrich Diederichsen, maschek und Robert Buchschwenter eingeladen. Im Work­shopprogramm gibt es „Kritisches Schreiben“ mit Magnus Klaue, DJing mit Kristian Davidek und Schauspielen mit Sabrina Reiter, Ursula Strauss und Marie Kreutzer. Weiters gibt es auch beim heurigen YOUKI Vermitt­lungspro­gram­me zur Frage „Was ist Film?“ in praktischer Anschauung und Diskussion, zum Beispiel werden „Pioniere des La­chens“ vorgestellt.

www.youki.at

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