Istanbul On Line

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ISTANBUL on LINE heißt ein Linienprojekt zur Stadterschließung, das einige StudentInnen 2007 in Istanbul gestartet haben, im wörtlichen sowie übertragenen Sinn im Alleingang. Dieses Projekt ist aus einer persönlichen Unzufriedenheit entstanden, bereits ein halbes Jahr in Istanbul zu sein und kaum etwas über die Stadt zu wissen. spotsZ spricht mit Markus Jeschaunig und berichtet über das fern von jeglichem institutionellen Rahmen entstandene Projekt.

„Wo man sich sonst schnell einmal auskennt“, sagt Markus Jeschaunig als impulsgebender Projektbetreiber, schien die Metropole Istanbul im Ge­gen­satz zu groß, zu unübersichtlich und außerhalb der bekannten Pfade „ein im­mer wieder neues Häusermeer zu eröffnen, einen neuen Gebäude­hori­zont“ aufzutun, orientalisch ausufernd und okzidental wuchernd innerhalb kultu­reller und sozialer Pole, die auch für die Instanbuler Verwaltung mehr als herausfordernd sind. Bezeichnenderweise divergieren etwa diverse An­ga­ben zur Bevölkerungszahlen der Stadt zwischen 12 und 20 Millionen, bzw. spricht der Chef vom Stadtplanungsinstitut in Istanbul lieber gleich von einem „zusammenwachsenden Marmararaum als Ballungsraum“, als kon­kre­te Stadtgrenzen von Istanbul zu nennen. Diese Undefiniertheiten sind mit herkömmlicher Stadterfahrung und Städteplanung kaum in Ein­klang zu bringen, neben historisch/geographischer Bedingtheiten tun fi­nanz­star­ke Korruption und kräftige Armut das ihrige: Vor allem mit den Gece­kon­dus, den Slumvierteln in Istanbul, sind oft über Nacht aufgestellte, ganze Viertel gewachsen, bzw. sind viele Viertel aus diesem Slumursprung er­wachsen. Ein spezielles Gesetz aus dem islamischen Recht verbietet es näm­lich, ein über Nacht gebautes Haus abzureißen.

Aus der beruflichen Verortung unter anderem als Archtitekturstudent­In­nen und aus diversen Vorerfahrungen in Richtung Stadtwahrnehmungs- und Kartographieprojekten (FLAUM, ForschungsLabor öffentlicher rAUM sie­he auch spotsZ 10/06) entstand das Bedürfnis, die Stadt anders zu lesen, „nicht nur öffentlich, von außen über verkehrsbedingte oder touristische We­ge“ zu erschließen, sondern einen Querschnitt zu erarbeiten, der Urba­ni­tät jenseits der Trennung von schön und unschön, offiziell und inoffiziell, Auf­sehen erregend und gewöhnlich, und auch jenseits der Trennung von Architektur und Städteplanung begreift. Es entstand die simple, jedoch überzeugende Idee, die Stadt in einem ungewöhnlichen und repräsentativen Querschnitt zu durchqueren, sie über ein Line-Walking praktisch zu er­fahren, indem man eine Linie von 26 km „körperlich abgeht“. Rückbezüge stellt Markus Jeschaunig im Gespräch über die situationische Interna­tio­na­le und Guy Debord her und um deren bevorzugtes Mittel der Wahl: Beim de­rive, dem ziellosen Herumstreifen in der Stadt, geht es nach Aussage Je­schaunigs darum, „Gesellschaft und öffentlichen Raum anders zu lesen, freie Wahrnehmung und neue Techniken der Wahrnehmung zu erforschen“. Im Gegensatz zum ziellosen Herumstreifen sieht er ISTANBUL on LINE aber als lineares derive, das sich entsprechend der realen Stadtentwicklung von Is­tan­bul des nach hinten begrenzten Landes entwickelt, als auch auf einer symbolischen Ebene der Linie von Westen nach Osten erstreckt, was auch als Weg von Europa nach Asien, vom Okzident in den Orient lesbar ist. Dem­­entsprechend wurde die Linie auf der Hagia Sofia als kulturellem Na­belpunkt von Istanbul zentriert und in Richtung Osten um die selbe Dis­tanz erweitert, die sich im Westen bis zum Atatürk-Flughafen erstreckt, also je­weils 13 km. Bezeichnendes Detail am Rande: Neben der Hagia Sofia gibt es einen Grenzstein der Römer, von dem aus die Distanzen ins römische Reich gemessen wurden.

Zum Vergleich und zur weiteren Unterscheidung noch ein anderes situationistisches Stadtprojekt, das als „City Joker“ beim steirischen Herbst als Li­nienprojekt von Dieter Spath umgesetzt wurde: Hier wurden auf einer Län­ge von einem Kilometer die Dimensionen und Grenzen des öffentlichen und privaten Raumes erforscht, in dem mit einer maximalen Abweichung von einem Meter Räume passiert, Hindernisse überschritten oder Fenster durchquert wurden, Mauerdurchbruch inklusive. Das gleiche Interesse ergab sich aus dem Umstand, dass die Stadt „die Linie natürlich nicht kennt“ und deshalb das Besondere offenbart. Die Absichten, Dimensionen und Grenzen, die sich bei der Stadtbegehung von ISTABUL on LINE ergaben, waren je­doch andere, die sich speziell im offenen und öffentlichen Raum der Groß­stadt Istanbul in andersartiger Dimension zeigten. Ein paar Fakten: Auf drei Etappen innerhalb von drei Tagen wurden von etwa zehn Personen um den engeren Kern von Markus Jeschaunig (A), Elsa Mekki-Berrada (FR), Carla Mevissen (D) and Perihan Usta (T) im Endeffekt mit zahlreichen Abwei­chun­gen über 40 km entlang dieser Linie gewandert, Begegnungen ge­macht, Tausch und eine Spur des Tausches angeregt, Grenzen und der Bos­po­rus überwunden, Sonnenblumensamen auf die offenen Flächen der an­sonsten stark zubetonierten Stadt gestreut, ein roter Faden verlegt, Fotos gemacht.

In Form von Workshops vor Ort wurde dann das Projektmaterial gelesen und weiterentwickelt. Nun liegt eine Projektdokumentation in Form einer Karte vor, die ISTANBUL on LINE-documentation map, die auf einer Größe von 80 x 142 cm die wesentlichen Projektvorgänge von ISTANBUL on LINE zeigt. Im Maßstab von 1:22000 wurden auf verschiedenen Dokumen­ta­ti­ons­linien verschiedene Ereignisse festgehalten, etwa  GPS-Path (der vorgege­be­ne Weg), Amplitude (Höhe der Abweichung vom Weg), Line Access (Do­ku­mentation des öffentlichen und privaten Raumes), Functions (Siedlung, In­dustrie, Verkehr, Militär, Friedhöfe, Meer), Profile (Istanbul im Quer­schnitt), Luftaufnahme (Google Earth), Seeds (gestreute Sonneblumen­sa­men), Offi­cial District Borders (offizielle Bezeichnungen der Viertel), Cognitive City (selbst wahrgenommene Grenzen), Exchange&Red Line (Dokumentation von Tausch und der verlegten roten Linie), Mental Mapping (die selbst nachgezeichnete Stadt) und Names (Wörter, denen man begegnet ist).

Dass dieses Liniengehen mit bunten Eindrücken gepflastert war, sollen folgende Anekdoten über diverse, zu umgehende „Grenzerfahrungen“ verdeut­lichen: An militärischen Sperrgebieten wurde man höflich, aber bestimmt ab­gewiesen, am Friedhof, „der 80 Millionen Tote beheimatet“, wieder zum rich­tigen Ausgang geschickt. Dies- und jenseits einer Schnellstraße offenbarte sich die soziale Grenzziehung überdeutlich, dort waren sich „Ap­part­mand-Gececondus“ und eine Gated-Community mit neu errichteten „Lüks-Woh­nungen“ zumindest geographisch nahe. Und gerade am Bosporus, wo es eigentlich einzig möglich war, eine wirkliche Linie durchs Meer zu ziehen, wurde das nicht gemacht: Man zeigt sich begeistert von einem auftauchenden Delphinschwarm, dem man eine längere Strecke in Richtung Sü­den nachtuckerte.  

Ein Effekt war, dass sich die teilnehmenden ProtagonistInnen nach der Wan­derung tatsächlich in der Stadt auf eine Weise orientieren konnten, die vorher nicht möglich war. In der alltäglichen Benutzung der Stadt erkannte man Orte, die abgegangen wurden. Markus Jeschaunig sagt, dass er durch das Wiedererkennen diverser Orte „in der Stadt plötzlich on line war“. Andererseits beförderte das Projekt auch quasi-geheimnisvolle Prozesse, die Stadt in sich aufgenommen zu haben, und damit „zu einer singulären  Repräsentation der Stadt“ ge­worden zu sein. Ein anderes Ergebnis ist, dass die ISTANBUL on LINE-documentation map in einem interessanten Widerspruch von mathematischer Li­nearität und assoziativer Erzählung steht. Letz­tere, erzählerische Elemente werden besonders in der Mental Map oder in der Cognitive City, die in­dividuellen Bezeichnungen den offiziellen Dis­trict Bordern gegenübergestellt, offenbar. Außer­dem wur­den erzählerische Texte von der zu we­sent­li­chen Teilen projektbeteiligten Jana Mende notiert und ebenfalls auf der Linie verortet. Alles in al­lem zeigt die Karte einen gleichermaßen offiziellen wie sehr subjektiven Aggregatszustand einer Stadt, der gleichzeitig da ist, so wie er ist, und andererseits „sobald er vorbei, gleich wieder weg ist“.

Jede Stadt kann durch Line Walking abgegangen werden, man müsse nur die entsprechende geometrische Form finden, sagt Jeschaunig, das war im Falle Istanbul die gerade Linie, „um der Dis­kon­tinuität, dem Chaos der Stadt mit Kontinuität zu begegnen“. Dass der Mann in Metropolen denkt, zeigt, dass er für Los Angeles gleich die passende Form parat hat, nämlich „eine Linie an einer tektonischen Grenze, die die repräsentative Gitter­form des Straßennetzes natürlich durchschneidet“, nicht aber für Linz, hier müsse er „noch etwas nachdenken“. Was er außerdem gesagt hat, soll an dieser Stelle lächelnd verschwiegen werden.

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05/08
FotoautorInnen: 
Markus Jeschaunig

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