Lesen meint: Man muss zuerst einmal bequem sitzen.
„Buch.Zeit“ gibt es seit rund 15 Jahren. So lange ist es her, dass die Sorge um die Lesekultur von Kindern und Jugendlichen ambitionierte Pädagogen in die Gründung des Vereins getrieben hat. Unterstützt werden nicht nur Volksschulen, sondern auch Kindergärten, denn, so Dipl. Päd. Hermann Pitzer von Buch.Zeit: „Die Entscheidung zwischen einem gutem und einem schlechten Leser fällt bereits lange vor dem Eintritt in die Schule. Sprachkompetenz wird schon im Alter von 10 Monaten gelegt, die Ausbildung der zumindest grundlegenden grammatikalischen Strukturen ist bereits bei einem Zweieinhalbjährigen abgeschlossen.“ Das heißt, Schulen müssen mit jenem Vermögen jonglieren, das Eltern und Großeltern für sie aufbereitet haben. Und diese Vermögensbildung passiert über das Vor-Bild lesender Eltern und die Vertrautheit des Beieinandersitzens beim Vorgelesen-Bekommen.
Nach jahrzehntelangem Bemühen um gleichgeschlechtliche Erziehung, in der Buben auch mit Puppen spielen sollten und Mädchen mit Autos, hat die Pädagogik neuerdings wieder akzeptiert: Buben denken anders als Mädchen. Mädchen lesen Geschichten, Buben Informationen. Dieser pädagogischen Kapitulation im Sinne der 68er-Bewegung trägt man heute wieder insofern Rechnung, als neben Belletristik Kindern wieder vermehrt Sach- und Fachbücher angeboten werden. Um aus Bibliotheken, den „Paradiesen des Lesens“ keine bloßen „Supermärkte des Lesens“ zu machen, versucht Buch.Zeit die Angebote an die Kinder gut zu sortieren. Pitzer: „Gute Sortierung lässt eine Differenzierung des Lesers zu“.
Das alles sind Bemühungen, die am Grundsätzlichen bestenfalls rühren und nicht rütteln können: Wenn jemand partout nicht lesen will, ist es kaum möglich, ihn dafür zu begeistern. Auch Fragen jenseits elementarer Ansprüche wie: Wie kommt man über die Befriedigung kindlicher Neugier an Information zur reinen, ästhetischen Leselust hat im Alltagsbetrieb der Schule, die ohnehin permanent damit kämpft, dass der an sich individuelle Prozess des Lernens im Kollektiv stattfinden muss, kaum Platz.
Der Verein trägt viele gute Ideen in die Schulen. So schickt man etwa Volksschüler zum Vorlesen in Kindergärten. Andere Ideen funktionieren wie Maßnahmen, um auf Strömungen und Zeitgeist entsprechend zu reagieren: Das Anbieten von Themenlexika etwa, der die viel zitierte, um sich greifende Reizüberflutung eine pädagogisch sinnvolle Form der Lesemotivation gegenüberstellen soll. Vielleicht ist ja gerade das lexikalische Lesen der kürzeste Weg zum reinen Lustlesen. Das Lesen von Schlagwörtern führt zum Lesen von Definitionen, die wiederum selbst aus Wörtern bestehen, aus denen sich weitere Schlagwörter ergeben, und dies bis ins Unendliche. Das macht ein Lexikon zu einem paradoxen, schwindelerregenden Zustand, der gleichzeitig strukturiert und unbestimmt ist. In dieser alphabetischen Ordnung ohne Zentrum sollte es sich endlos lang lassen.
Von der Endlosigkeit zurück zum Startpunkt: 200 Wörter/min muss man lesen können, unter diesem Wert ist’s nicht lustig. Es gibt Trainingsmethoden, die talentierte Leser sogar auf beachtliche 1000 Wörter/min treiben. Diese Zahlen helfen der Pädagogik und ihrem Klientel beim angestrebten Ziel – die Lesekompetenz zur Sprachkompetenz zu entwickeln, also dem Verstehen von Sinn, nur bedingt auf die Sprünge. Es gibt in der westlichen Kultur zwar kaum mehr Menschen, die nicht lesen können. Allerdings zählen Untersuchungen in Amerika 12 % sekundäre Analphabeten, in Österreich immerhin 3-4 %, Tendenz steigend, so Pitzer.
Mit solchen Daten sehen sich Staaten auch in ihrer wirtschaftliche Kompetenz bedroht, siehe die jedes dritte Jahr ausbrechende Hysterie um die Ergebnisse der Pisa-Studie. Ein Arbeiter, der die Betriebsanleitung der Maschine, die er bedient, nicht sinnerfassend lesen kann, sei ein potentieller Schwachpunkt im Wirtschaftsgefüge.
Hermann Pitzer konstatiert: „Das Lesen hat sich mit dem Computer verändert.“ Das Lesen im Internet kann sich zum lexikalischen Lesen hochschaukeln, muss aber nicht. Gerade bei jungen Lesern versandet es oft im Patchwork, bleibt fragmentarisch und ohne inhaltliche Konsistenz. Darum ist das Buch auch nach wie vor erstes pädagogisches Mittel beim Lesenlernen: „Das Lesen im Internet verlangt eine von vornherein höhere Lesekompetenz, weil es ein hypertextgeleitetes Lesen ist. Ohne Fähigkeit zum Sinnverständnis wird man am Problem des Stichwortfindens scheitern und Google, Wikipedia usw. spucken alles auf einmal aus und am Ende gar nichts.“
„Der springende Punkt“, meint Pitzer, „ist die Assoziation, also die sprachliche Vorstellung, die in eine bildliche umgewandelt wird. Diese Transkription funktioniert nicht ohne Erfahrung. Buch.Zeit schließt alle Möglichkeiten und somit alle Medien in seine Überlegungen mit ein. Trotzdem und gerade deshalb bleibt die althergebrachte Kritik am Fernsehen bestehen. Was über die letzten Jahrzehnte konsequent abgebaut wurde, ist Erfahrung. Es ist ein maßgeblicher Unterschied, ob ein Kind eine Katze nur über den Fernseher kennt oder die Möglichkeit hat, eine Katze zu streicheln. Die Technisierung der Sinnlichkeit führt dazu, dass man selbst nicht mehr sehen muss. Wer keine Erfahrungen macht, kann sich auch nicht erinnern. Und wer sich nicht erinnern kann, für den bleibt die Tür von der standardisierten Sprache zum subjektiven Bild im Kopf verschlossen.“
„Lesen bildet“, sagt eine Volksweisheit, „Lesen ist Abenteuer im Kopf“ lautet ein Slogan des ORF. Hingegen meint der Verlag Wagenbach in der hauseigenen Werbung „Lesen meint: Man muss zuerst einmal bequem sitzen.“ Was den Umgang mit Medien aller Art anbelangt, scheint dieses „bequem sitzen“ sowohl Ungestörtheit als auch ein sich-eingefunden-Haben vorauszuschicken, das von den sicher erworbenen Kompetenzen sowie Sinnlichkeiten im Idealfall dorthin führt, wohin immer man auch lesenderweise möchte.
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