Dem Leser sind ja die Hände gebunden
Ich habe wieder einmal ein „Werk“ fertig gelesen, war also nicht mehr und nicht weniger als ein aufmerksamer Zuhörer. Nicht weniger, als ich „gelesen“ habe, so gut ich eben kann, aber eben auch nicht mehr, weil das Lesen ein für mich zeitraubendes Tun ist, ein Nichtstun, das mich in jeder Hinsicht ungeduldig macht.
Ich glaube, ich bin ein undankbarer Leser. Als Leser weiß ich nicht, was sich gehört. Das macht nichts, solange ich mit einem gekauften Buch alleine bin. Wenn ich für ein Buch bezahlt habe, kenne ich keine Lesehemmungen. Dann lese ich im Gefühl, mir die Anstrengung des Schriftstellers erkauft zu haben, dann gehört der Text mir, und demzufolge mache ich mit dem Text, was ich will. Erst einmal heißt das: ich lese ihn oder ich lese ihn nicht. Manchmal kaufe ich mir Bücher, nur um sie nicht zu lesen. Manchmal kaufe ich mir so ein nicht lesenswertes Buch gerade deshalb, um es in eine Ecke stellen zu können, wo es dann steht, ungelesen und eben für nichts gut.
Wenn ich aber erst einmal ins Lesen gekommen bin und den Schriftsteller als lesenswert erkenne, dann lese ich. Allerdings lese ich ohne Lesemanieren. Manchmal fange ich mit dem letzten Satz auf der letzten Seite an, und wenn mir der Satz entgegenkommt, kann es passieren, dass ich zurückblättere und irgendwo in der Mitte weiterlese.
Nichts gegen Menschen, die Bücher von vorne nach hinten lesen, immer von links nach rechts und von oben nach unten, Seite für Seite und Satz für Satz, aber ich stelle mir solche Menschen gern händewaschend vor und eselsohrenausbügelnd und es sich in einer bestimmten Lesestellung gemütlich zurechtmachend und dann vielleicht auch noch zeigefingerableckend im Fünfminutentakt, dem Umblättern wegen. Das sind die Leser, die das Wort „Buch“, oder schlimmer noch, das Wort „Bücher“ so saftlos aussprechen, als hätten sie gerade den zur staubtrockenen Waffel gewordenen Leib Christi im Mund.
Im Vergleich zu solchen Menschen lässt mein Leseverhalten zu wünschen übrig. Ich benehme mich so, als gehörte die Literatur, die ich lese, mir. Ich kaufe mit dem Buch den Geist des Buches. Ich kaufe mir den Schriftsteller und mache ihn mir zu Eigen. Wenn ich ihn lese, gehört er mir, als stünde er mir zur Verfügung.
Ich bestimme, was gut und was schlecht geschrieben ist. Und ich befinde ausschließlich jene Sätze für gut, die ich genauso geschrieben hätte. Habe ich bei einem gelesenen Satz nicht das zwingende Gefühl: Warum ist das mir nicht eingefallen? – Das hätte genaugenommen mir einfallen müssen! – dann ist der Satz nicht gut genug, dann ist dem Schriftsteller der Satz misslungen, und sofort stelle ich an das Buch die Frage: Was bildest Du dir eigentlich ein?
Wenn ich mich aber in den Sätzen selbst – wie man so schön sagt – wiederfinde, dann beschäftigt mich das Buch. Dann lese ich das Buch nicht aus, dann lese ich darin herum, immer wieder und überall. Ich lese das Buch im Zug, bei der Arbeit, am Klo, in Wartezimmern und Warteschlangen, im Bett, in der Badewanne, hin und wieder sogar beim Gehen – bei jeder Gelegenheit. Dabei ist mein Lesen ein ständiges Herumkritzeln, ich lese nie ohne Kugelschreiber, schreibe Wörter dazu, streiche Wörter weg, male Rufzeichen oder Fragezeichen an den Textrand usw., ich schrecke letztendlich nicht einmal davor zurück, den Text gnadenlos auszuschlachten, indem ich in Gesprächen mit Freunden oder beim Schreiben von Briefen gelesene Sätze zitiere, selbstverständlich ohne mich dabei an die üblichen Zitierregeln zu halten.
Selten habe ich dabei das Gefühl, etwas vorzugeben, das ich nicht bin. Ich nehme mir nur Sätze heraus, die mir gehören. Ich habe diese Sätze ja nicht nur gekauft, ich habe sie auch gefunden. Ich habe sie mir durch redliche Arbeit verdient.
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