Sacre!
Interessant ist die umstrittene Urheberschaft der Idee zum Frühlingsopfer: Während Strawinsky angab, dass ihn die Vision „einer großen heidnischen Feier“ völlig unerwartet während der letzten Phase des „Feuervogels“ überkam („alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen“), arbeitete der Librettist Nikolai Rjorich auf Bitten Serghei Diaghilews bereits 1909 an dem Versuch, eine archaische Szene eines slawischen Rituals zu beschreiben: Das Ballett endete mit den ersten Sonnenstrahlen – die Choreographie sollte ein Ritual darstellen, „einen ersten Versuch, die Vorzeit ohne explizite Geschichte wiederzugeben“. Erarbeitet wurde das Libretto dann gemeinsam im Sommer 1911.
Durch die Choreographie von Waslaw Nijinsky (wie die oben genannten Personen Teil des Künstlerkollektives der „Ballet Russes“) wurde Le Sacre du Printemps wohl ohne Übertreibung zu einem der ersten modernen Ballette überhaupt. Nijinsky setzte den Konventionen der alten Ballettschulen eine äußerst eigenständige Formensprache entgegen: Kovulsionsartige, expressive Gruppensequenzen, die Öffnung des Bühnenraumes als dezentraler Handlungsraum, rhythmisch äußerst komplexe und anspruchsvolle Choreographiesequenzen, das Zurückgreifen auf einfache, aber äußerst lebendige Bewegungsmuster wie Laufen und Springen, der Verzicht auf Stilmittel wie das Pas de Deux zwischen Mann und Frau samt seinen zwangsläufigen Hebefiguren – das alles stand im krassen Gegensatz zum erstarrten Blut des Balletts mit seinen höfischen Traditionen und auch den wohl damals schon unzeitgemäßen Rollenbildern. Aber auch der Musik Strawinskys setzte Nijinsky eine eigenständige und zum Teil sogar gegenläufige rhythmisch hochkomplexe Choreographie entgegen. Das ging soweit, dass Strawinsky, quasi unbewusst gegen die Opulenz und Komplexität seiner Musik argumentierend, die gewaltige (Er-)Schöpfung der Choreographie als mühevoll, „maßlos überladen“ und „viel zu kompliziert“ bezeichnete. Nijinsky hingegen entwarf ein energetisiertes, eigenständiges Bewegungsbild zeitgemäßer Menschen und emanzipierte damit den Tanz auch gegenüber der Musik.
(Weibliche) Dialektik der inneren Kraft
Pina Bausch, die Mutter des deutschen Tanztheaters, verwendete 1975 das Material, um ein anderes Körperbild darzustellen. Zentrale Methoden des deutschen Tanztheaters waren Montage und Verfremdung, Bewegung wurde im Körper des Tänzers auf subjektive Wahrheit überprüft, Tänzer wurden damit zu Koautoren der Erzählung. Was bewegte nun die Körper? In einer mitunter gebrochenen und melancholischen, jedenfalls sehr bildhaften und emotionalen Art und Weise thematisierte Pina Bausch die Einschreibung von kulturellen Codierungen in den subjektiven Tänzerkörper. Es ging darum, hinter Ästhetik, Gesellschaft, Begehren, Erinnerung und Verdrängung etwas von sich wieder zu finden und sich subjektiv in einer körperlichen und konflikthaft kritischen Weise darüber äußern zu können.
Etwa 20 Jahre später entstand 1993 die Interpretation von Le Sacre du Printemps von Marie Chouinard, die nun im Posthof zu sehen war. Sie baute ihr Stück rund um Soli auf, die das persönliche Mysterium des einzelnen Körpers auf der Bühne gleichsam erwecken sollten. Stille und Atem als unsichtbar pulsierende Quelle des Körpers definierend, arbeitet die Choreographin „nur mit dem Körper selbst“, bzw. einer unterschiedliche kulturelle Konzepte integrierenden individuellen und unerschöpflichen Körperintelligenz: Ihre Interpretation des Sacre-Materials verweist auf die ursprüngliche und wilde Lebenskraft des subjektiven Körpers und greift auf die archaische und phantastische Schönheit des energiegeladenen Moments: Chouinard handelt mit dem very moment – mit der Unmittelbarkeit, die einem Urknall folgt. Die energetisierende Wirkung der Musik formt in der Bewegung ihr Echo und gleichermaßen ihren Gegenpart.
(Männliche) Dialektik der zeichenhaften Oberfläche
Etwa zur selben Zeit, 1995, entstand die Produktion „Jérome Bel“ (von Jérome Bel), in der Strawinsky nur mehr als Zitat vorkam – als eines unter vielen. In einem hingeworfenen Bühnenszenario schrieben die Tänzer Namen von Persönlichkeiten wie Thomas Edison oder eben Igor Strawinsky, aber ebenso ihre eigenen persönlichen Daten wie Name, Kontostand, Gewicht oder Telefonnummer auf eine schwach beleuchtete Tafel. Zum leisen Gesang eines Tänzers (der den ganzen Abend Le Sacre du Printemps sang) beschrifteten sie danach ihre eigenen, nackten Körper mit Zahlen, Sternbildern oder dem Namen Christian Dior. Der Körper als enorme Strukturierungsarbeit von Sprache und Codes (und ohnehin schon mit Text und Zeichen überladen) entwickelt bei Bel eine Haltung, als ob es längst reiche mit den bisherigen Einschreibungen. Deshalb und weil Tanz und Bühnenformen dabei nur ein Zeichen unter vielen Zeichen sind, die den Körper durchziehen, gleichen die Tänzerkörper auf der Bühne den Körpern im Publikum frappant: sowohl was ihre passive Erwartungshaltung gegenüber dem Bühnengeschehen angeht als auch ihre schlichtweg fehlende, weil uninteressante tänzerische Brillanz: Der Tanz selbst war am Nullpunkt, dafür fördert Bel Sinnfragmente an die Oberfläche und sucht die Wahrheit allenfalls zwischen den ästhetischen Zeichen.
Während Bel Körper als mediales Zeichenbild dekonstruiert und damit in seiner darunter liegenden Vielschichtigkeit offen legt, wird bei der im Rahmen der klassischen Klangwolke 2006 uraufgeführten Inszenierung von Klaus Obermaier sowohl die Körperoberfläche als auch der Bühnenraum als umfassendes virtuelles Zeichen generiert – der Körper der Tänzerin Julia Mach wird als Ganzes und auf eine hier hochtechnische Art und Weise zum totalen virtuellen Zeichen seiner selbst. Das Spannungsfeld zwischen dem wirklichen Körper und dem 3D-animierten Artefakt ist unübersehbar: Die Tänzerin baut ihren Raum mit der Vervielfältigung ihres eigenen Körpers, mit überhöhten 3D-Effekten und der Spiegelung von in Scheiben geschnittenen, auf sich selbst gegengespiegelten Körperebenen auf. Zweifelsohne entsteht ein Bild des Körpers, das fasziniert, schockiert und mitunter neben dem sichtbaren echten Körper better than real world erscheint. Was passiert aber nun zwischen den Zeichen? Einerseits Visualisierung von technischer Interaktion der Computercodes, die durch Musik und Tanz gesteuert, Geschwindigkeit und Intensität des Bildes regeln – quasi den dreidimensionalen Raum organisieren. Andererseits bleibt zwischen Musik und realem Körper ganz altmodisch die Inszenierung – in ihrer wahrhaftig auf das Medium ausgerichteten Zeichensetzung. Angelehnt an das Vorwort von Klaus Obermaier im Programmheft könnte in der Umsetzung vom Frühlingsopfer nichts weniger als das „Opfer“ des realen menschlichen Körpers und des realen Raums thematisiert worden sein – zugunsten eines Glücksversprechens, als „Metapher der Erlösung und Vorwegnahme des ewigen Glücks, das uns neue Technologien und alte Religionen versprechen“. Auferstanden ist ein virtueller Körper, der lediglich als totale Hülle und gemischte Oberfläche in einem virtuellen Raum lebendige Urständ feiert und auch vom Publikum begeistert gefeiert wurde. Dass die Oberfläche des Körpers dabei nur eine Oberfläche unter vielen ist, die auch völlig wegfallen könnte, scheint nach diesem elektrisierenden Abend zwar unvorstellbar, ist aber naheliegend und offensichtlich.
Zwischen den unausgesprochenen Zeichen kritisch argumentierend könnte man Strawinskys eingangs zitierte Vision des Sacre du Printemps („alte, weise Männer sitzen im Kreis und …“ etc.) durchaus auch als Aussage der Dominanz einer Technik gegenüber eines zwar ikonographisch hochstilisierten aber letztendlich völlig abmontierten (weiblichen) Körpers lesen – und damit diese Produktion betreffend eine genderrelevante Perspektive einführen, die ausnahmsweise auch den männlichen Körper direkt betrifft. Man könnte aber andererseits noch einmal beim Ursprung des Stückes und bei Strawinsky verweilen, um so ganz allgemein auf die traditionelle Dominanz des Geistes (der Musik) gegenüber dem Körper (dem Tanz) zu insistieren. Dementsprechend reichte es Strawinsky nicht, Nijinskys Choreographie als „mühevoll“ und „überladen“ zu bezeichnen – er marginalisierte nachträglich noch seine Bedeutung, indem er ihm in seiner Biographie 1936 jede Fähigkeit absprach, „Noten lesen“ zu können, ja sogar „die einfachsten musikalische Regeln“ zu kennen: „Über die Art, wie er Musik erlebte, sprach er in banalen Phrasen, er wiederholte, was seine Umgebung sagte“. Nijinsky, der wesentlich zum Skandal der Uraufführung und zum sofort darauf folgenden Triumph von Le Sacre du Printemps beigetragen hatte, war 1936 aber schon seit mehr als 15 Jahren an Schizophrenie erkrankt und dementsprechend weg vom Fenster.
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