Sacre!

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Zwei Mal Igor Strawinsky und Zeitgenössischer Tanz beim Brucknerfest: Das Ballett „Le Sacre du Printemps“ („Das Frühlingsopfer“) wurde im Rahmen des Brucknerfests zweifach aufgeführt: Einmal als visuell von Klaus Obermaier und dem AEC Futurelab inszenierte Uraufführung bei der klassischen Klangwolke und einmal als zeitgenössisches Ballett der kanadischen Kompanie von Marie Chouinard im Posthof. Die vielerlei möglichen Bezüge und das wiederholte Aufgreifen des Materials verdeutlichen auch heute noch dessen Relevanz: der skandalösen Uraufführung 1913 in Paris erschlossen sich in Folge die umwälzenden Umdefinierungen von Ästhetik, Körper und Bühnenraum. Eine Recherche.

Interessant ist die umstrittene Urheberschaft der Idee zum Frühlingsopfer: Während Strawinsky an­gab, dass ihn die Vision „einer großen heidnischen Feier“ völlig unerwartet während der letzten Phase des „Feuervogels“ überkam („alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem To­des­tanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stim­men“), arbeitete der Librettist Nikolai Rjorich auf Bitten Serghei Diaghilews bereits 1909 an dem Versuch, eine archaische Szene eines slawischen Rituals zu beschreiben: Das Ballett endete mit den ersten Sonnenstrahlen – die Choreo­gra­phie sollte ein Ritual darstellen, „einen ersten Versuch, die Vorzeit ohne explizite Geschichte wie­derzugeben“. Erarbeitet wurde das Libretto dann gemeinsam im Sommer 1911.

Durch die Choreographie von Waslaw Nijinsky (wie die oben genannten Personen Teil des Künst­lerkollektives der „Ballet Russes“) wurde Le Sacre du Printemps wohl ohne Übertreibung zu einem der ersten modernen Ballette überhaupt. Nijinsky setzte den Konventionen der alten Bal­lett­schulen eine äußerst eigenständige Formen­spra­che entgegen: Kovulsionsartige, expressive Grup­pensequenzen, die Öffnung des Bühnen­rau­mes als dezentraler Handlungsraum, rhythmisch äußerst komplexe und anspruchsvolle Choreo­gra­­phie­sequenzen, das Zurückgreifen auf einfache, aber äußerst lebendige Bewegungsmuster wie Laufen und Springen, der Verzicht auf Stil­mit­tel wie das Pas de Deux zwischen Mann und Frau samt seinen zwangsläufigen Hebefiguren – das alles stand im krassen Gegensatz zum erstarrten Blut des Balletts mit seinen höfischen Tra­di­tionen und auch den wohl damals schon unzeitgemäßen Rollenbildern. Aber auch der Musik Stra­winskys setzte Nijinsky eine eigenständige und zum Teil sogar gegenläufige rhythmisch hoch­komplexe Choreographie entgegen. Das ging soweit, dass Strawinsky, quasi unbewusst gegen die Opulenz und Komplexität seiner Musik argumentierend, die gewaltige (Er-)Schöpfung der Cho­reographie als mühevoll, „maßlos überladen“ und „viel zu kompliziert“ bezeichnete. Nijinsky hin­gegen entwarf ein energetisiertes, eigenständiges Bewegungsbild zeitgemäßer Menschen und emanzipierte damit den Tanz auch gegenüber der Musik.

(Weibliche) Dialektik der inneren Kraft
Pina Bausch, die Mutter des deutschen Tanzthea­ters, verwendete 1975 das Material, um ein anderes Körperbild darzustellen. Zentrale Methoden des deutschen Tanztheaters waren Montage und Verfremdung, Bewegung wurde im Körper des Tän­zers auf subjektive Wahrheit überprüft, Tän­zer wurden damit zu Koautoren der Erzählung. Was bewegte nun die Körper? In einer mitunter gebrochenen und melancholischen, jedenfalls sehr bildhaften und emotionalen Art und Weise the­matisierte Pina Bausch die Einschreibung von kulturellen Codierungen in den subjektiven Tän­zerkörper. Es ging darum, hinter Ästhetik, Gesell­schaft, Begehren, Erinnerung und Verdrängung etwas von sich wieder zu finden und sich subjektiv in einer körperlichen und konflikthaft kritischen Weise darüber äußern zu können.

Etwa 20 Jahre später entstand 1993 die Inter­pre­tation von Le Sacre du Printemps von Marie Choui­nard, die nun im Posthof zu sehen war. Sie baute ihr Stück rund um Soli auf, die das persönliche Mysterium des einzelnen Körpers auf der Bühne gleichsam erwecken sollten. Stille und Atem als unsichtbar pulsierende Quelle des Kör­pers definierend, arbeitet die Choreographin „nur mit dem Körper selbst“, bzw. einer unterschiedliche kulturelle Konzepte integrierenden individu­el­len und unerschöpflichen Körperintelligenz: Ihre Interpretation des Sacre-Materials verweist auf die ursprüngliche und wilde Lebenskraft des subjektiven Körpers und greift auf die archaische und phantastische Schönheit des energiegeladenen Moments: Chouinard handelt mit dem very moment – mit der Unmittelbarkeit, die ei­nem Urknall folgt. Die energetisierende Wirkung der Musik formt in der Bewegung ihr Echo und gleichermaßen ihren Gegenpart.

(Männliche) Dialektik der zeichenhaften Ober­­fläche
Etwa zur selben Zeit, 1995, entstand die Produk­tion „Jérome Bel“ (von Jérome Bel), in der Stra­winsky nur mehr als Zitat vorkam – als eines unter vielen. In einem hingeworfenen Bühnen­sze­nario schrieben die Tänzer Namen von Persön­lich­keiten wie Thomas Edison oder eben Igor Stra­­winsky, aber ebenso ihre eigenen persönli­chen Daten wie Name, Kontostand, Gewicht oder Tele­fon­nummer auf eine schwach beleuchtete Ta­fel. Zum leisen Gesang eines Tänzers (der den gan­zen Abend Le Sacre du Printemps sang) be­schrifteten sie danach ihre eigenen, nackten Kör­per mit Zah­len, Sternbildern oder dem Namen Christian Dior. Der Körper als enorme Strukturie­rungsarbeit von Sprache und Codes (und ohnehin schon mit Text und Zeichen überladen) entwickelt bei Bel eine Haltung, als ob es längst reiche mit den bisherigen Einschreibungen. Deshalb und weil Tanz und Bühnenformen dabei nur ein Zeichen unter vielen Zeichen sind, die den Kör­per durchziehen, glei­chen die Tänzerkörper auf der Bühne den Kör­pern im Publikum frappant: sowohl was ihre passive Erwartungshaltung ge­genüber dem Büh­nen­geschehen angeht als auch ihre schlichtweg fehlende, weil uninteressante tän­zerische Bril­lanz: Der Tanz selbst war am Nullpunkt, dafür fördert Bel Sinnfragmente an die Oberfläche und sucht die Wahrheit allenfalls zwischen den ästhetischen Zeichen.

Während Bel Körper als mediales Zeichenbild de­konstruiert und damit in seiner darunter liegenden Vielschichtigkeit offen legt, wird bei der im Rah­men der klassischen Klangwolke 2006 uraufgeführten Inszenierung von Klaus Obermaier so­wohl die Kör­­peroberfläche als auch der Bühnen­raum als umfassendes virtuelles Zeichen generiert – der Körper der Tänzerin Julia Mach wird als Ganzes und auf eine hier hochtechnische Art und Weise zum totalen virtuellen Zeichen seiner selbst. Das Spannungsfeld zwischen dem wirkli­chen Körper und dem 3D-animierten Artefakt ist unübersehbar: Die Tänzerin baut ihren Raum mit der Ver­viel­fältigung ihres eigenen Körpers, mit überhöhten 3D-Effekten und der Spiegelung von in Schei­ben geschnittenen, auf sich selbst gegengespiegelten Körperebenen auf. Zweifelsohne ent­­steht ein Bild des Körpers, das fasziniert, schockiert und mitunter neben dem sichtbaren echten Kör­per better than real world erscheint. Was passiert aber nun zwischen den Zeichen? Einer­seits Visu­alisierung von technischer Interaktion der Com­pu­tercodes, die durch Musik und Tanz gesteuert, Geschwindigkeit und Intensität des Bil­des regeln – quasi den dreidimensionalen Raum organisieren. Andererseits bleibt zwischen Musik und realem Körper ganz altmodisch die Insze­nie­rung – in ihrer wahrhaftig auf das Medium ausgerichteten Zeichensetzung. Angelehnt an das Vorwort von Klaus Obermaier im Programmheft könnte in der Umsetzung vom Frühlingsopfer nichts weniger als das „Opfer“ des realen menschlichen Körpers und des realen Raums thematisiert worden sein – zugunsten eines Glücks­versprechens, als „Meta­pher der Erlösung und Vor­wegnahme des ewigen Glücks, das uns neue Technologien und alte Reli­gionen versprechen“. Auferstanden ist ein virtu­eller Körper, der lediglich als totale Hülle und ge­mischte Oberfläche in einem virtuellen Raum le­bendige Urständ feiert und auch vom Publikum begeistert gefeiert wur­de. Dass die Oberfläche des Körpers dabei nur eine Oberfläche unter vielen ist, die auch völlig wegfallen könnte, scheint nach diesem elektrisierenden Abend zwar unvorstellbar, ist aber naheliegend und offensichtlich.

Zwischen den unausgesprochenen Zeichen kritisch argumentierend könnte man Strawinskys ein­gangs zitierte Vision des Sacre du Printemps („alte, weise Männer sitzen im Kreis und …“ etc.) durchaus auch als Aussage der Dominanz einer Technik gegenüber eines zwar ikonographisch hoch­­stilisierten aber letztendlich völlig abmontierten (weiblichen) Körpers lesen – und damit die­­se Produktion betreffend eine genderrelevante Perspektive einführen, die ausnahmsweise auch den männlichen Körper direkt betrifft. Man könnte aber andererseits noch einmal beim Ur­sprung des Stückes und bei Strawinsky verweilen, um so ganz allgemein auf die traditionelle Do­mi­nanz des Geistes (der Musik) gegenüber dem Körper (dem Tanz) zu insistieren. Dement­sprechend reichte es Strawinsky nicht, Nijinskys Choreographie als „mühevoll“ und „überladen“ zu bezeichnen – er marginalisierte nachträglich noch seine Bedeutung, indem er ihm in seiner Biographie 1936 jede Fähigkeit absprach, „Noten lesen“ zu können, ja sogar „die einfachsten musikalische Regeln“ zu kennen: „Über die Art, wie er Musik erlebte, sprach er in banalen Phrasen, er wiederholte, was seine Umgebung sagte“. Nijin­sky, der wesentlich zum Skandal der Urauffüh­rung und zum sofort darauf folgenden Triumph von Le Sacre du Printemps beigetragen hatte, war 1936 aber schon seit mehr als 15 Jahren an Schi­zo­phrenie erkrankt und dementsprechend weg vom Fenster.

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10/06
FotoautorInnen: 
tb

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