Fünf Thesen zu der Frage, ob sich schreiben lernen lasse

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Schreiber, Schreiberling, Kulturarbeiter, Creative Writer? Magnus Klaue ist mit einem Workshop zu Gast bei YOUKI und reflektiert im Vorfeld diverse ausbildende Literaturschulen als auch den zeitgenössischen Kulturbetrieb ganz allgemein. Mögliche Zusammenfassung: Was bei SchriftstellerInnen einst Genie war, ist heute eine Haltung von optimiertem Selbstmarketing.

I.
Die neueste, wissenschaftlich institutionalisierte Form der Schreibschule heißt „angewandte Literaturwissenschaft“. Sie ist eine Erfindung der akade­mischen Philologien, mit der diese ihre Relevanz als Ausbildungsstätten für den postmodernen Kulturbetrieb unter Beweis stellen wollen. Sie soll dem Pu­blikum signalisieren: Wir vermitteln genauso wie die Natur­wis­sen­schaf­ten und Ingenieursberufe spezifische Fachkompetenzen, die sich dann spä­ter auf dem Arbeitsmarkt „anwenden“ lassen. Der Begriff der Anwen­dung je­doch, der aus den Naturwissenschaften stammt, ist den Geistes­wis­sen­schaf­ten insgesamt unangemessen. Er unterstellt, dass sich geistige Ge­bilde, un­ab­hängig von ihrem besonderen Gehalt, automatisch in sinnvolle Pra­xis übersetzen lassen, begreift aber auch umgekehrt jede Praxis als reibungslose „Anwendung“ vorgängiger Theorien. Damit tut er der Sphäre des Denkens ebenso Unrecht wie der Sphäre praktischen Handelns. Denn wie Denken, sofern es nicht zum Problemlösen zusammenschrumpfen will, im­mer über die empirische Realität hinausgreift, in der es stattfindet, so er­schöpft sich keine Praxis je in der Umsetzung zugrundeliegender Ideen. Des­halb wird so­gar in den Naturwissenschaften nur innerhalb eines eng um­grenzten Rah­mens, bei der experimentellen Versuchsanordnung, problemlos von „An­wen­dung“ gesprochen. Pauschal von einer „angewandten Wis­sen­­schaft“ zu re­den, zeugt dagegen vor jeder inhaltlichen Bestimmung be­reits von einem Miss­ver­ständnis. Keine Wissenschaft, mag sie sich auch noch so ausgefeilter Me­thoden bedienen, geht in den Nutzanwendungen auf, die sich aus ihr ab­lei­ten lassen; keine Praxis, so reflektiert sie auch sein mag, erschöpft sich in der Realisierung von Ideen. Eine Wissenschaft, deren Telos ihre „An­wen­dung“ ist, muss geist- und begriffslos werden; eine Praxis, die sich als „An­wendung“ einer Wissenschaft verstände, ginge an der Wirk­lichkeit vorbei.

II.
Das dubiose Ideal der „angewandten Wissenschaft“ kommt zum ersten Mal im späten 19. Jahrhundert im Zuge des Positivismus auf und reflektiert die zunehmende Ohnmacht theoretischen Denkens ebenso wie die schwindenden Wirkungsmöglichkeiten praktischen Handelns. Je bedingungsloser geis­tige Arbeit sich am Primat der Nützlichkeit messen lassen muss, desto mehr verkümmern Theorien zu Methoden und Ideen zu bloßen Auslösern von Hand­­lungen. Anders als kulturkonservative Verteidiger der Geistes­wis­sen­schaf­ten es sich wünschen, die den Geist, dessen Verwaltung ihnen arbeitsteilig zugewiesen ist, von jeder Spur der Empirie rein halten wollen, beeinträchtigt diese Entwicklung aber auch die Sphäre der Praxis selbst. Der Be­ha­vio­rismus, der das Verhältnis von Denken und Handeln nur als endlose Kette von Reiz-Reaktions-Impulsen fassen kann, billigt dem Geist ebenso wenig Au­tonomie zu wie der Praxis. Auch deren Wert erschöpft sich für ihn in den Ef­fekten, die sie nach sich zieht, und den Ursachen, denen sie sich verdankt. Nicht der Geist wird gegenüber der Praxis abgewertet, sondern beide werden auf einen instrumentellen Kausalzusammenhang nivelliert, der sich selbst ge­nügt. „Angewandte Literaturwissenschaft“ macht die Literatur – einen Ge­genstand, der gerade durch sein Überschreiten praktischer Zwe­cke, ja durch Zweckfreiheit bestimmt ist – zum Rohstoff für eine Kultur­ar­beit, die sich zwar an ihm erprobt, ihm gegenüber aber äußerlich bleibt, weil sie allein sich selbst zum Ziel hat. Damit ist sie Ausdruck einer Wirk­lichkeit, in der Literatur, die nur noch als „kulturelles Kapital“ fungiert, nicht mehr zweckfrei, sondern tendenziell zwecklos ist.

III.
Der Typus der „KulturarbeiterIn“ bildet sich nahezu zeitgleich mit dem Sie­geszug des Positivismus heraus. JournalistInnen, FeuilletonistInnen, Reise­bericht­er­statterInnen, Conférenciers und KabarettistInnen begreifen ihre Tex­­te zum ersten Mal in der Geschichte ganz unmittelbar als kulturelle Ge­brauchsgüter, de­ren Wert das Publikum ihnen in klingender Münze auszahlt. Berufs­schrift­stel­lerInnen hat es schon lange vorher, seit der Blütezeit des Bür­gertums, gegeben. Der renommierteste unter ihnen war Goethe, der er­folgreichste Goe­thes volkstümlicher Rivale August von Kotzebue, dessen Un­terhal­tungs­stü­cke als Vorform des modernen Boulevardtheaters gelten kön­nen. Dennoch ist der/die BerufsschriftstellerIn bis zur Mitte des 19. Jahr­hunderts jemand, von dessen Werken nicht ohne weiteres angenommen wird, dass sie in dem Preis aufgehen, der für sie bezahlt wird. Wo solcher Verdacht ruchbar wird, gilt der/die SchriftstellerIn vielmehr als Schrei­ber­ling: Der kulturelle Wert seiner/ihrer Arbeit sinkt im gleichen Maße, wie sein/ihr kommerzieller Erfolg wächst. Der Zwang zum kommerziellen Erfolg als authentische Antriebskraft schriftstellerischer Produktion wird erst seit dem 19. Jahrhundert anerkannt. Der vielleicht erste deutsche Unter­hal­tungs­schriftsteller, der ohne Ansehen seines kommerziellen Erfolgs auch als Künst­ler geachtet wurde, war Theodor Fontane. Mit der massenhaften Ver­brei­tung der Tageszeitungen und Jour­nale wird die Doppelexistenz als lohnabhängige VerfasserIn von Gebrauchs­texten und unabhängige geistige Schöp­ferIn der eigenen Produkte im späten 19. Jahrhundert zunehmend zu einer, wenngleich prekären, Normalität.

Ein ganzes Repertoire literarischer Stile wäre ohne diese Entwicklung un­denkbar gewesen. Autoren wie Joseph Roth, Peter Altenberg, Arthur Schnitz­ler, Else Lasker-Schüler, aber auch Alfred Döblin oder Egon Erwin Kisch ha­ben nicht nur ihre Themen, sondern die ihnen ei­ge­ne Schreibweise aus der kommerziellen Ge­brauchsliteratur, aus Feuille­tons, Reportagen, Es­says oder der Reklame bezogen, oh­ne deshalb ein­fach „FeuilletonistInnen“ gewesen zu sein. Die skiz­zen­haften Kleinformen des litera­ri­schen Im­pres­si­­­onismus, die Plakat- und Pam­phlet­kunst des Ex­pressionismus und Dadaismus, die dringliche Nüch­ternheit der neusachlichen Li­te­ratur sind auf ver­schiedene, je unverwechselbare Weise ein Ergeb­nis der Verwandlung von Li­teratur in Massen­wa­re, von LeserInnen in Konsu­men­tInnen und von Au­­torInnen in bezahlte Produ­zen­tInnen. Selbst die Sprachkritik von Karl Kraus, die den Jargon des aufkommenden Feuilletonismus zerpflückt und die Kommerzialisierung der Spra­che, ihre Ver­wand­­lung zur bloßen Verkehrsform, mit Verachtung straft, bezieht ihre Pointiertheit und Emphase aus der Auseinandersetzung mit dem/der An­grei­fer­In, an dem sie sich misst. Sie kennt nicht mehr das gemütliche Räsonnement des bürgerlichen Ro­­mans, sondern hat sich in ihrer Schär­fe, in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit und ihrer Ver­siertheit an der Sprache der aufkom­men­den Mas­sen­me­di­en geschult.

IV.
Trotz ihrer Nähe zum Massenkonsum und zur mo­dernen Gebrauchsliteratur waren die AutorInnen je­ner Blütezeit der Moderne, die heute von einer ein­zig und allein auf ihre eigene „Anwend­bar­keit“ schielenden Literaturwissenschaft als frühe Ex­po­nentInnen von „Kulturmanagement“ und „Selbst­­marketing“ entdeckt werden, keine Marke­ting­agent­Innen in eigener Sache. Ihr gesellschaftli­cher und ökonomischer Status war desperat, die Spleens und nervösen Eigentümlichkeiten, die sie ausbildeten, waren keine souveränen Versuche der Selbstvermarktung, sondern Symptome ihres gesellschaftlichen Scheiterns, ihrer Ohnmacht und ihrer Randständigkeit, die notwendig Bor­niert­hei­ten, Blindheiten und Ticks im Individuum ausbilden – nicht zufällig ist der „Spleen“ in jener Zeit, seit Baudelaire, eine positive Kategorie. Die Mo­derne ist die wohl letzte Epoche, in der es der Li­teratur gelingt, die ihr seit dem 18. Jahrhundert notwendig eigene Warenförmigkeit in sich aufzunehmen, ohne der eigenen Form nach zur Ware zu werden. Ihr geschichtlicher Ort ist die Groß­stadt: Feuilleton, Glosse, Polemik, literarische Ka­rikatur – all diese Stilformen bilden sich vor dem Hintergrund der urbanen Milieus, in Café­häu­sern, Kneipen sowie in den modernen Verkehrs­mitteln aus. Geschrieben wird nicht mehr in der Studier­stu­be oder Dachkammer, sondern im öf­fentlichen Raum; der/die AutorIn ist, schon während er/sie schreibt, zumindest virtuell Teil der Massen, die ihn/sie später lesen werden. Der Alltag dieser Mas­­sen ist seine einzige literarische Schule. Daher ist er/sie das Gegenteil der VolksschriftstellerIn, der/ die nicht für den anonymen Markt, sondern für die autochthone Gemeinschaft schreibt: Die Ent­frem­dung von den dispersen Massen, denen der/ die mo­derne AutorIn gerade als IsolierteR, allein auf sich selbst VerwieseneR angehört, ist notwen­dige Be­din­gung seiner/ihrer marktvermittelten Pro­duktion. Ge­rade indem er/sie mit niemandem mehr etwas ge­mein hat, spricht er/sie für alle, weil er/sie mit allen die eigene Isoliertheit teilt.

V.
Das Aufkommen von Literaturinstituten, Schreib­schulen, Creative Writing-Workshops sowie einem ganzen Arsenal von Stipendien-, Wettbe­werbs- und Förderprogrammen ist demgegenüber ein genuin postmodernes Phänomen. Es zeugt von dem Ver­such, die an ihrer Isoliertheit als blo­ße Waren­sub­jekte zunehmend irre werdenden In­dividuen zwang­haft an etwas anderes als den Markt zu­rückzubinden und die Erfahrung der Ent­frem­dung didaktisch, betriebswirtschaftlich und sozialpä­da­gogisch zu kompensieren. Weil die un­durch­dring­liche Ödnis der Wirklichkeit kaum mehr rudimentäre Anknüpfungspunkte für individuelle Er­fahrung übrig zu lassen scheint, soll Erfahrung durch Training ersetzt werden; weil sich angesichts der blanken Irrelevanz der eigenen Exis­tenz kaum jemand mehr sprachlich zu helfen weiß, werden im Einüben eines fungiblen Repertoires von Gattungen, Stilformen und Ton­lagen tradierte literarische Formen der Be­wäl­ti­gung von Wirk­lichkeit gecovert und geklont, die den Subjekten, die sich ihrer bedienen, doch notwendig fremd bleiben müssen. Der richtige Im­puls, der von derlei Übungen ausgehen könnte – die Betonung des Handwerklichen gegenüber der Ideologie des Ge­nies und der Inspiration – schlägt in sein Gegen­teil um: Das Moment der Spontaneität, des Plan­losen und Ungedeckten, das jeder authentischen geistigen Produktion in­newohnt, wird als bloßer Effekt von handwerklicher und marketingpsycho­logischer Geschick­lich­keit ausgegeben, ganz so, als käme es auf das Individuum gar nicht mehr an, als sei es nichts als ein Durchgangsort für die geschickte Kom­bi­nation vorhandener Stile, For­men und Diskurse. Darin konvergieren Post­mo­der­­ne und Positi­vis­mus: Wenn geistige Origina­li­tät nichts als ein Er­gebnis von Übung und „Ge­nie“ nichts als ein an­deres Wort für optimiertes Selbst­marketing ist, dann ist auch Ich nicht mehr „un­rettbar“, wie Ernst Mach in der Hochzeit der Mo­derne behauptet hat, sondern beliebiges Pro­dukt eines flexiblen Selbstmanagements. Und für dessen Gelin­gen erhält man dann am Ende einen Preis, ein Sti­pendium oder zumindest ein Diplom.

YOUKI Festival, 16.–21. November, Medien Kultur Haus Wels und Alter Schl8hof Wels. www.youki.at

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FotoautorInnen: 
YOUKI

SchreiberIn oder Schreiberling – kann man Schreiben lernen?

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