Gesellschaft im Gespräch mit sich selbst
Die Industrialisierung hat tüchtige Arbeiter und Ingenieure gebraucht, die in technischer und logisch-mathematischer Hinsicht fundiertes Grundwissen mitbringen. Darüber hinaus war es von Vorteil eine zusätzliche Sprache zu sprechen. So entstand die immer noch aktuelle Fächerhierarchie, in der Musik und Bildende Kunst ganz unten rangieren und Theater und Tanz praktisch nicht vorkommen. Der Körper muss zwar durch „Leibeserziehung“ in Form gebracht werden, darf aber ansonsten nicht unnötig durch Selbstausdruck die automatisierten Arbeitsabläufe behindern.1
Die Arbeitswelt ist inzwischen aber ganz woanders angekommen und es ist von Vorteil, sich bewusst zu machen, dass eine Schulreform, die Bildung und Kreativität einander näher rückt, zunächst einmal von der Wirtschaft gefordert wird. Die Dienstleistungs-, Informations- und Wissensgesellschaft kann es sich schlicht nicht mehr leisten, sich mit SchulabgängerInnen zu plagen, die nicht gelernt haben im Team zu arbeiten, selbstständig Lösungen zu entwickeln, flexibel auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren oder Dinge zu verwerfen und anders zu versuchen. Der Druck, den der Arbeitsmarkt nahe legt, kann am ehesten Reformen von oben auslösen. Dadurch bleibt aber die Gefahr, dass die Forderung nach kreativeren, flexibleren und selbstbewussteren Arbeitskräften nur zu einer veränderten Zurichtung von Menschen für den Markt wird. Es soll ja auch Seminare geben, in denen innerhalb eines Wochenendes alle Techniken vermittelt werden, um kreativ zu sein.
Eine andere Perspektive auf die Zusammenführung von Bildung und Kreativität ermöglichen Ansätze wie das eben zu Ende gehende Linz09 Schulprojekt I LIKE TO MOVE IT MOVE IT2. Es bringt KünstlerInnen aus den Bereichen Tanz, Theater und Performance mit SchülerInnen und LehrerInnen in Form von sieben- und achtwöchigen Projekten in Kontakt. Grundvoraussetzung ist, dass die Projekte in der Regelschulzeit der SchülerInnen realisiert werden und sich alle Beteiligten auf einen zunächst ergebnisoffenen Arbeitsprozess einlassen. Das bedeutet in der Praxis, dass es keine fertigen Stücke oder Choreographien gibt, die die Jugendlichen einstudieren, sondern dass – wie in der zeitgenössischen darstellenden Kunst üblich – von dem ausgegangen wird, was da ist: Die Menschen und ihre Beziehungen, Themen und Räume.3
Hier wird die technokratisch gedachte Koppelung von Bildung und Kreativität überschritten, hin zu einer Verbindung von Lernen und künstlerischer Arbeit; hier wird das in der Schule ansonsten scheinbar Nutzlose (nämlich alles außerhalb des Lehrplans Liegende) zu einer relevanten Kategorie; hier wird der sich bewegende Körper zu einem Medium des Denkens. Genau an diesem Punkt aber erscheinen die Menschen als Individuen – und nicht mehr als funktionierende, austauschbare und hierarchisch zu bewertende Objekte.
In diesen Begegnungen sind die KünstlerInnen zunächst die Fremden. Sie kommen nicht als Lehrpersonen, sondern als PartnerInnen. Sie vergeben keine Noten, sondern versuchen die jeweilige Gruppe dort abzuholen, wo sie steht. Sie wollen nicht leere Fässer mit Wissen füllen, sondern stellen Rahmenbedingungen für individuelle Erfahrungen her. Dabei sind sie keine SpezialistInnen für Kindererziehung, sondern ExpertInnen in Theater, Tanz und Performance mit ihrem jeweiligen künstlerischen Ansatz. Dadurch sind sie – um einen schwierigen Begriff zu verwenden – authentisch. Und sie stören.
Es zeigt sich in solchen Projekten, dass es eine Herausforderung und einen Lernprozess für alle Beteiligten bedeutet, KünstlerInnen zu Projekten in Schulen einzuladen. Übliche Muster laufen auf Grundeis: Das Disziplinieren der Lehrpersonen steht infrage; die Jugendlichen merken, dass sie gefordert sind aktiv zu werden; die KünstlerInnen sind bisweilen schockiert, wie viel von ihrer Arbeit auf das Klären grundlegender sozialer Mechanismen entfällt. Dabei gibt es Ängste, Frustrationen, Scheitern, Tränen. Partnerschaftliche Prozesse bedingen aber eine grundsätzliche Haltung der Wertschätzung. Dadurch, dass auf die Beschämung durch Benotung verzichtet wird, kann ein vertrauensvolles Arbeitsklima entstehen, in dem die Jugendlichen aus sich selbst heraus wahrnehmen, wozu sie fähig sind. Das kränkende allgemeine „Du musst …“ verschwindet zugunsten eines individuellen „Ich kann …“.
Wenn eine Gesellschaft über Schulreformen4 nachdenkt, landet sie unweigerlich bei zwei Fragen: Was sind das für Menschen, die aus unseren Schulen kommen? Und: Wie können jene, die Schule umgestalten, ihre eigenen Erfahrungen mit Schule zu etwas Neuem hin transzendieren? Einen Ansatz für Antworten erhält, wer künstlerische Arbeitsprozesse als ein Modell der Schule von morgen5 sieht, in der Neugier, Forschen, Lernen, Körperlichkeit und Kreativität nicht behindert werden.
1 Am klarsten formuliert hat diese Überlegungen Sir Ken Robinson in seinem Buch Out Of Our Minds – Learning To Be Creative. Kurzvorträge im Web (www.youtube.com – search: sir ken robinson)
2 Informationen zu dem von Airan Berg und Guido Reimitz geleiteten Projekt auf www.linz09.at/ schulprojekt
3 Andere Beispiele sind der Film Rhythm Is It oder die in Deutschland durchgeführte „Bundesinitiative Tanz in Schulen“ zu der im Athena Verlag eine Studie vorgelegt wird: Empirische Annäherungen an Tanz in Schulen. Befunde aus Evaluation und Forschung.
4 Siehe dazu auch die Website der Pro Arts School Initiative (PASI): www.pasi.or.at
5 Beispiele von wesentlich weiter entwickelten Schulmodellen in Deutschland: Enja Riegel (Schule kann gelingen!) und Reinhard Kahl (Treibhäuser der Zukunft. Wie Schulen in Deutschland gelingen.)
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