Gesellschaft im Gespräch mit sich selbst

Das jeweilige Schulsystem verrät viel über eine Gesellschaft und welches Bild sich die Gesellschaft von sich selbst macht. Kaum einmal in der Geschichte der Schule hat dieses Bild im Vergleich mit der Wirklichkeit so alt ausgesehen. Markus Zeindlinger schreibt anlässlich des zu Ende gehenden Linz09-Schulprojektes einen Beitrag zur Forderung nach einer an Kreativität ausgerichteten Bil­dungs­reform.

Die Industrialisierung hat tüchtige Arbeiter und Ingenieure gebraucht, die in technischer und logisch-mathematischer Hinsicht fundiertes Grund­wis­sen mitbringen. Darüber hinaus war es von Vorteil eine zusätzliche Sprache zu sprechen. So entstand die immer noch aktuelle Fächerhierarchie, in der Musik und Bildende Kunst ganz unten rangieren und Theater und Tanz prak­­tisch nicht vorkommen. Der Körper muss zwar durch „Leibes­erzie­hung“ in Form gebracht werden, darf aber ansonsten nicht unnötig durch Selbst­aus­druck die automatisierten Arbeitsabläufe behindern.1

Die Arbeitswelt ist inzwischen aber ganz woanders angekommen und es ist von Vorteil, sich bewusst zu machen, dass eine Schulreform, die Bildung und Kreativität einander näher rückt, zunächst einmal von der Wirtschaft gefordert wird. Die Dienstleistungs-, Informations- und Wissensgesellschaft kann es sich schlicht nicht mehr leisten, sich mit SchulabgängerInnen zu plagen, die nicht gelernt haben im Team zu arbeiten, selbstständig Lösungen zu ent­wickeln, flexibel auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren oder Dinge zu verwerfen und anders zu versuchen. Der Druck, den der Arbeitsmarkt na­he legt, kann am ehesten Reformen von oben auslösen. Dadurch bleibt aber die Gefahr, dass die Forderung nach kreativeren, flexibleren und selbstbewussteren Arbeitskräften nur zu einer veränderten Zurichtung von Men­schen für den Markt wird. Es soll ja auch Seminare geben, in denen innerhalb eines Wochenendes alle Techniken vermittelt werden, um kreativ zu sein.

Eine andere Perspektive auf die Zusammenführung von Bildung und Krea­ti­vität ermöglichen Ansätze wie das eben zu Ende gehende Linz09 Schul­pro­jekt I LIKE TO MOVE IT MOVE IT2. Es bringt KünstlerInnen aus den Be­rei­chen Tanz, Theater und Performance mit SchülerInnen und LehrerInnen in Form von sieben- und achtwöchigen Projekten in Kontakt. Grund­voraus­set­zung ist, dass die Projekte in der Regelschulzeit der SchülerInnen realisiert werden und sich alle Beteiligten auf einen zunächst ergebnisoffenen Ar­beits­pro­zess einlassen. Das bedeutet in der Praxis, dass es keine fertigen Stücke oder Choreographien gibt, die die Jugendlichen einstudieren, sondern dass – wie in der zeitgenössischen darstellenden Kunst üblich – von dem ausgegangen wird, was da ist: Die Menschen und ihre Beziehungen, Themen und Räume.3
Hier wird die technokratisch gedachte Koppelung von Bildung und Kreati­vi­tät überschritten, hin zu einer Verbindung von Lernen und künstlerischer Ar­beit; hier wird das in der Schule ansonsten scheinbar Nutzlose (nämlich al­les außerhalb des Lehrplans Liegende) zu einer relevanten Kategorie; hier wird der sich bewegende Körper zu einem Medium des Denkens. Genau an diesem Punkt aber erscheinen die Menschen als Individuen – und nicht mehr als funktionierende, austauschbare und hierarchisch zu bewertende Objek­te.

In diesen Begegnungen sind die KünstlerInnen zunächst die Fremden. Sie kom­­men nicht als Lehrpersonen, sondern als PartnerInnen. Sie vergeben kei­­ne Noten, sondern versuchen die jeweilige Gruppe dort abzuholen, wo sie steht. Sie wollen nicht leere Fässer mit Wissen füllen, sondern stellen Rah­men­be­dingungen für individuelle Erfahrungen her. Dabei sind sie keine Spe­zia­list­Innen für Kindererziehung, sondern ExpertInnen in Theater, Tanz und Per­for­mance mit ihrem jeweiligen künstlerischen Ansatz. Dadurch sind sie – um einen schwierigen Begriff zu verwenden – authentisch. Und sie stö­ren.
Es zeigt sich in solchen Projekten, dass es eine Herausforderung und einen Lernprozess für alle Beteiligten bedeutet, KünstlerInnen zu Projekten in Schu­len einzuladen. Übliche Muster laufen auf Grundeis: Das Disziplinieren der Lehrpersonen steht infrage; die Jugendlichen merken, dass sie gefordert sind aktiv zu werden; die KünstlerInnen sind bisweilen schockiert, wie viel von ihrer Arbeit auf das Klären grundlegender sozialer Mechanismen entfällt. Dabei gibt es Ängste, Frustrationen, Scheitern, Tränen. Partnerschaftliche Prozesse bedingen aber eine grundsätzliche Haltung der Wertschätzung. Da­durch, dass auf die Beschämung durch Benotung verzich­tet wird, kann ein vertrauensvolles Arbeitsklima entstehen, in dem die Ju­gend­lichen aus sich selbst heraus wahrnehmen, wozu sie fähig sind. Das kränkende allgemeine „Du musst …“ verschwindet zugunsten eines individuellen „Ich kann …“.

Wenn eine Gesellschaft über Schulreformen4 nachdenkt, landet sie unweigerlich bei zwei Fragen: Was sind das für Menschen, die aus unseren Schu­len kommen? Und: Wie können jene, die Schule umgestalten, ihre eigenen Erfahrungen mit Schule zu etwas Neuem hin transzendieren? Einen An­satz für Antworten erhält, wer künstlerische Arbeitsprozesse als ein Modell der Schule von morgen5 sieht, in der Neugier, Forschen, Lernen, Kör­per­lichkeit und Kreativität nicht behindert werden.

1    Am klarsten formuliert hat diese Überlegungen Sir Ken Robinson in seinem Buch Out Of Our Minds – Learning To Be Creative. Kurzvorträge im Web (www.youtube.com – search: sir ken robinson)
2    Informationen zu dem von Airan Berg und Guido Reimitz geleiteten Projekt auf www.linz09.at/ schul­projekt
3    Andere Beispiele sind der Film Rhythm Is It oder die in Deutschland durchgeführte „Bundesinitiative Tanz in Schulen“ zu der im Athena Verlag eine Studie vorgelegt wird: Empirische An­nä­he­rungen an Tanz in Schulen. Befunde aus Evaluation und Forschung.
4    Siehe dazu auch die Website der Pro Arts School Initiative (PASI): www.pasi.or.at
5    Beispiele von wesentlich weiter entwickelten Schulmodellen in Deutschland: En­ja Riegel (Schule kann gelingen!) und Reinhard Kahl (Treibhäuser der Zukunft. Wie Schulen in Deutsch­land gelingen.)

20
Zurück zur Ausgabe: 
06/09
FotoautorInnen: 
Nick Mangafas

Frans Poelstra und ein Schüler in Aktion

& Drupal

spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014