Sie haben davon geträumt …
… von einem Theater, das die „zutiefst verunsicherte westliche Gesellschaft in der Krise“ (Pommerat) auf die Bühne bringt, in ihre ambivalenten Einzelteile zerlegt und poetisch verdichtet wiedergibt? Einem Theater, das jenseits traditioneller Dramaturgien vom Alltäglichen und Intimen, Außergewöhnlichen und Grotesken auf das große Dilemma unserer Zeit verweist und vice versa? Im umstrittenen Diptychon „Ich zittere“ des enfant terrible des französischen Gegenwartstheaters Joël Pommerat werden Sie (in einer Inszenierung von Gerhard Willert) möglicherweise eine Antwort finden.
Vor einem in allen Farben spielenden Glitzervorhang, auf einer ansonst spartanisch eingerichteten Bühne nimmt Sie Lutz Zeidler als weißgeschminkter, eleganter Conférencier mit schmeichelndem Tenor auf eine Reise mit, auf der Sie im szenischen Staccato allegorischen Einzelschicksalen begegnen, die, scheiternd und zerrissen, all das verkörpern, was heutzutage in unserem Leben und in unserer Gesellschaft nicht zu stimmen scheint: Eine Frau im hellrosa Negligé, ihren von innerer Unruhe gebeutelten Körper kaum auf den hochhackigen Schuhen haltend, versucht sich nach einer halbherzigen Kampfansage an die Kapitalismusmüdigkeit in der Beschimpfung der Machthaber ebendieses Systems. Ihre brüchige Stimme wird durch die Wucht von Katharina Hofmanns aufreizender, ironisch überhöhter Gesangseinlage brutal erstickt. Kleid und Vorhang funkeln dazu passend in blutigem Rot um die Wette – die eskapistische Betäubungspolitik der Unterhaltungsindustrie scheint ihres Zynismus überführt zu sein. Doch wie schon die nächste Szene verdeutlicht, hält der kommunistische „Realismus“ keinen adäquaten Gegenentwurf bereit. Eine junge Frau tritt in den Lichtkegel vor das Mikrofon und erzählt die Geschichte ihrer intellektuellen Mutter, die sich ihr entfremdete, um in einer Fabrik bis zur Selbstverstümmelung das proletarische Schicksal verstehen zu lernen, mit dem Ziel, „hart und effizient zu werden wie eine Maschine, nur nicht so empfindlich“. Einhändig und fingerlos rückt ebendiese im Arbeitskittel ihrer Tochter auf den zitternden Leib, um ihr „Nothing Compares To You“ ins Ohr zu hauchen. Die scharfe Trennung der Figuren durch Helmut Janacs Lichtregie lässt dabei ihre beider Einsamkeit noch deutlicher hervortreten und spiegelt eine im Verlauf des Stückes wiederholt variierte These in Negation wider: „Sie und ich, meine Damen, meine Herren, wir sind in Wirklichkeit schon immer zusammen“. Ein isolierter Mensch ist nicht überlebensfähig, wir alle sind in einem sozialen „Gewebe“ unauflöslich miteinander verbunden. Wie viele dieser szenischen Einblicke wird dieses Bild, begleitet vom scharfzüngig süffisanten Kommentar des Conférenciers, schlussendlich von der Schwärze der unbeleuchteten Bühne verschluckt.
In nur wenigen Spielminuten gelingt es Pommerat/ Willert derart die ehemals utopischen Gedankengebäude der zwei konkurrierenden wirtschaftspolitischen Weltbilder des Westens einzureißen, ihr auf materielle Bedürfnisse verkürztes Menschenbild aufzubrechen und gleichzeitig Hoffnung zu spenden, dass es einen Ausweg gibt: Die Erkenntnis, nicht alleine zu sein. Jenseits postmoderner Ideenskepsis verschreibt sich dieses „philosophische Lachprogramm“, um die Eigendefinition eines großen österreichischen Sozialkritikers, Thomas Bernhard, zu zitieren, einer Kritik der Moderne und ihrer zur Zweckrationalität pervertierten Vernunft, deren neoliberalistische Ausbeutungsverhältnisse nur eine Spielart der mannigfaltigen Beschneidungen des zoon politikon darstellen.
Das hierfür eine Ästhetik verwendet wird, die sich dem durch technologisierte Medien gefilterten Wahrnehmungs- und Deutungshorizont des westlichen Publikums anpasst, erscheint nur logisch. Wie weißes Rauschen umfängt das schwelende, zischende Sounddesign von Marco Palewicz die Dialoge und Erzählungen der SchauspielerInnen, deren Stimmen sich vom Körper lösen und aus der Konserve stimmungsvolle Tableaux überlagern können. Der ungewohnt hohe Einsatz von Schwarzbildern, also Momenten, in denen die Bühne unbeleuchtet dem/der BetrachterIn Zeit zu Reflexion und Introspektive schenkt, erinnert an Experimentalfilme und lässt Reminiszenzen an die Montagetheorie des reflexiven Intervalls eines sowjetischen Avantgardefilmers der 1920/30er Jahre, Dziga Vertov, zu. So gleicht auch das gesamte „Cabaret“-Programm einem Zappen durch die Kanäle des Lebens(-TV). Lyrische Momente lösen verstörende, komische lösen tragische ab, sodass thematisch und atmosphärisch das Spiel jeden Moment kippen kann.
Der zweite Teil des Abends geht über die Erkenntnis der gemeinschaftlichen Verbundenheit hinaus und stellt anhand der Biographie des Conférenciers, mittels derer sich nun die Lebenslinien vieler Figuren des ersten Teils kreuzen, den Menschen vor eine neue Herausforderung. Nun gilt es, die nur durch die Abwertung der Anderen ermöglichte „Krankheit der Verschönerung des Selbst“ zu heilen und sich mit der eigenen Mittelmäßigkeit zu konfrontieren. Nicht trotzdem zu lieben, sondern deshalb, präsentiert ein Unterfangen, das den Conférencier der Apokalypse immer näher bringt. Seine Abenteuer sind dabei gespickt mit Zitaten aus der Populär- und Theatergeschichte. Doppeldeutig amüsant gestaltet sich seine Affäre mit einer meerjungfräulichen Sirene, die ihren in schwarzem Latex gehaltenen (Fisch-)Schwanz gegen zwei Beine eintauscht, im Gegenzug dazu aber ihre Stimme verliert und sich demgemäß nicht wehren kann, als der Conférencier, enttäuscht durch ihre zuvor herbei gewünschte Verwandlung, ihr Schweigen als Abneigung deuten will und sie verlässt.
Ebenso zeugt ein weißer Harlekin, der einen kritischen „Zuschauer“ von der Bühne holt und im wahrsten Sinne des Wortes (mund)tot macht, vom theatergeschichtlichen Selbstbewusstsein Joël Pommerats sowie seinem dramaturgischen Willen, sich das Publikum nie allzu lange in Deutungs- und Interpretationssicherheit wiegen zu lassen.
Das Ensemble stellt sich mit zurückgenommenem, daher umso intensiverem Schauspiel den Aufgaben dieses Theaterexperiments, das sich nichts Geringerem als der Darstellung eines revolutionären Menschenbilds verschrieben hat. Ganz nach der Vorstellung des französischen Philosophen François Flahaut, einer der wichtigsten Inspirationsquellen Pommerats, wird der Mythos der Moderne entlarvt, scheint das Konzept eines abgelöst vom Kollektiv rein sich selbst verwirklichenden Individuums endgültig entzaubert zu sein. Dass hierbei Fragen offen bleiben, macht den Reiz dieses zuerst sinnlich, dann rational packenden Theaterabends aus, bei dem sich Magie und (Des-) Illusion die Hand reichen und der den/die ZuschauerIn mit neuen Augen wieder in die Welt entlässt.
Weitere Vorstellungstermine: 09., 17. Juni, Kammerspiele Linz
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