Feiner Donaufisch aus dem Schwemmland

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Völlig Neues zur Stadt: Christoph Wiesmayr und Bernhard Gilli haben sich in Ihrer Architektur-Diplomarbeit [Schwemmland] dem alten und neuen „Schwemmland“ im Linzer Osten gewidmet – und sich in einer methodischen Mischung den städtischen Randzonen, der Stadt- und Wirtschafts­geschichte, der Zurückdrängung der Donau und den vielfältigen Zwischenräumen einer Stadt zu-gewandt, die sich fein säuberlich von ihrem Fluss getrennt hat.

Im Schwemmland. Im Sinne der beiden Au­to­ren ist der Arbeitstitel [Schwemm­land] ein Trans­for­mationsbegriff, der im sehr weit gefassten Sinn für Veränderung steht: In vielen Benennungen1 steht der Linzer Osten für eine in ständiger Suk­zes­sion befindliche Zone, die von der einstigen Au­­land­schaft mit agrarischer Bewirtschaftung zum wirtschaftlich-industriellen Herz der Stadt geworden ist. Der Name [Schwemmland] wurde dabei von Christoph Wiesmayr und Bernhard Gilli zum ersten Mal im Rahmen eines singulär veranstalteten „Rurban Workshops“ 2008 verwendet, der be­­reits damals den Blick auf die unbeachteten Rand- und Zwischenzonen von Stadt, Land und Fluss len­ken sollte. Beziehungsweise dorthin, wo der landschaftsgestaltende Hauptakteur nicht mehr der Fluss, sondern der Mensch mit seiner Industrie ge­worden ist. Denn im Gegenzug zum ehemaligen Über­schwemmungsgebiet der Donau ist, mit den Autoren gesprochen, ein neues „wirtschaftliches Schwemmland“ aus Industrie, Handel, Verkehr und Perso­nen­strömen entstanden – inklusive städ­ti­scher Energie- und Abfallwirt­schaft, die in stetiger Frequenz die Konsumgüter anschwemmt.

Urbane Differenzen. Wie der oben bereits ge­nann­te Begriff „rurban“ an­klingen lässt, schlägt [Schwemmland] eine eigenwillige Verbindung zwi­schen urban, rural und ruderal auf, vielleicht da­mit auch zwischen Kultur, Natur und Industrie. [Schwemmland] will sich aber vor allem als Dif­ferenzbegriff verstanden wissen: Im Gegensatz zur städtischen Monotonie der kulturellen, wirtschaft­lichen Nutzung und der großplanerischen Ein­grif­fe geht es um Randzonen, Restflächen, Zwischen­zonen, Brachen, den Wert der Frei­flä­chen an sich. Und, um einen theoretischen Ansatz zu bemühen: Es soll hier die Sievertsche „Zwischenstadt“ als „multipler Möglichkeitsraum“ der An­eig­nung zi­tiert werden, als „Kern des Urbanen“. Es geht um nichts weniger als sinnlich erfassbare Differenz und darum, dass sich dort, wo nicht alles ausdefiniert ist, das Andere oder etwas Neues finden lässt, ein ungewöhnlicher Blick für vorhandene Mi­schungen und Phänomene des Bottom-Up, oder darum, dass nach genauer Beobachtung eine ökologisch-nachhaltige Nut­­zung erfolgen kann: Wie z. B. ein neues Donaufischlokal beim Hol­la­berer mit­ten im Industriegebiet, aber dazu weiter un­ten.

Der Hollaberer. Zweifelsohne ist ein wesentli­cher Ausgangspunkt der Ar­beit das Hollabe­rer­an­wesen in der Estermannstraße, wo einer der Au­to­ren der Arbeit, Christoph Wiesmayr, aufgewa­ch­sen ist. Es gibt eine langjährige Familien­ge­schich­te, einen Hofnamen mit jahrhundertealter Ge­schich­te: Das Hollabereranwesen hat als landwirt­schaft­liches Gut mitten im Industrie­ge­biet die Jahr­hun­derte, bzw. besonders die letzten Jahrzehnte insofern überlebt, als dass hier zum Beispiel rundhe­rum nach dem zweiten Weltkrieg die Au, bzw. das ehemalige Überschwemmungsgebiet der Donau weit­flächig um drei Meter aufgeschüttet wurde, um in Voest-Nähe auf Kriegsschutt und Müll eine Industrie- und Gewerbefläche zu installieren – gewerbliches Fol­ge­wachs­tum rundherum inklusive. Da das Gut also Zeiten von Veränderung und Um­bau überdauert hat, geht es mit dem Durch­schreiten des Gartentors nicht nur vom Industrie­gebiet mitten hinein in eine Stadtoase des Agra­ri­schen, son­­dern auch mal real drei Meter hinunter, sozusagen auf ursprüngliches Ni­veau. Hier treffe ich auch Wiesmayr für einen Rundgang durchs „For­schungs­­gebiet“.

Ruderales Industriegebiet. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass im Os­ten der Stadt die Ein­griffe massiv waren, über lange Jahrzehnte, und dass es sich um eine hochaufgeschichtete, hochre­gulierte, hochversiegelte Zone handelt, die un­ter enormen wirtschaftlichen Druck steht. Noch im­mer gibt es z. B. das „Verdachtsflächen­katas­ter“, das die Altlasten der Ver­gan­genheit verwaltet, wie Wiesmayr zu Beginn des Rundgangs er­läutert. Dann gehen wir durch Industriezonen und Au­land­schaft, die ei­gentlich wild überwu­cher­te Industrie­landschaft ist, zur Donau und entlang des Donau­dammes wieder zurück. Es ließe sich mannigfaltig Interessantes erzählen, von neu ein­gezogenen Pflanzen und Tieren in den Industrie­zonen, von mitt­lerweile quasi-asiatischen Donau­mu­scheln bis zu den essbaren, aber unabsichtlich eingeschwemm­ten, alles verdrängenden amerikanischen Si­gnal­krebsen in der Traun, vom Frei­zeit­angebot für Lin­zerInnen bis hin zu Men­schen, die bewusst über längere Phasen an der Donau leben wollen, hier zumindest zeitweise „aussteigen“. Oder wo sich, im Jargon der Arbeit gesprochen, an­der­wärtige „ru­de­rale Nischen“ oder „Zeitfenster“ auftun, ge­wöhn­li­che, un­ge­wöhnliche – nicht selten von der Zen­trums­gesellschaft als problemhaft emp­funden oder tatsächlich tragisch; oder zumindest mit me­lan­cho­lischen Nuancen des Verschwin­dens versehen. Hierzu wurden von den Autoren 17 „Rur­bane Ni­schen-Karten“ ausgearbeitet, mit den drei Ka­te­go­rien: „Ru­de­ra­le Phänomene“, „Individuelle Raum­an­eignungen“ und eben „Zeitfenster“. Die auf­merk­sam systematisierte Arbeit [Schwemm­land] ist hier imstande, ge­nau­e Auskunft zu geben über angestellte Beobachtungen, zu­sammen­ge­tra­gene Fak­­ten, nachgestellte Spuren, Geschichte und Ge­schich­ten, strukturelle Zu­sammenhänge, atmos­phä­rische An­näherungen, Stadt­iden­tisches, und­und­und.

Linz an der Donau vs. Linz/Donau. Aber, um auf die Versiegelung zu­rückzukommen: Diese steht vielleicht am symptomatischsten für Linz, seine Ge­schichte und Identität. Im Verhältnis zur Donau wird real wie symbolhaft klar – dort, wo die Do­nau einst als natürliches Schwemmland bewirtschaftet wurde und das Hochwassergebiet den Lin­zer Stadtrand umspült, be­feuchtet, überschwemmt und fruchtbar gemacht hat, also dieses Zwischen­land die Stadt und ihren Fluss verbunden hat, ist heute die Donau hochreguliert und gleichzeitig suk­zessive aus der Stadt hinausgedrängt. Sie ist „wei­ßer Fleck auf der Karte“ geworden. „Es gibt keine natürliche Kom­mu­ni­kation mehr zwischen Stadt und Fluss“ wie Wiesmayr am Quell­was­ser­becken anmerkt. Bezeichnenderweise ist dabei „Linz an der Donau“ zu „Linz/Donau“ geworden. Das heißt, der Fluss ist fein säuberlich von der Stadt abgetrennt: Das idyllisch anmutende Quell­wasserbecken stellt den kon­­kreten Ort der Tren­nung zwischen Grundwasser und Donau dar: Ei­ner­seits trennt eine Wand am Hochwasserdamm den Fluss vom Grund­was­ser­spiegel im Gebiet – eine Wand im Boden, versteht sich. Andererseits stellt die Re­gu­lierung des Grundwasserabflusses aus dem Gebiet eine quasi hoch­re­gulierte „künstliche Kommunikation“ zwischen der versiegelten Stadt und ih­rem Fluss dar. Übrigens hat ein einziger Biber das System auch schon mal mit seinem Bau blockiert ... Konklusionen im Gespräch bleiben auch hier: Auch wenn die Stadt eine vorbildliche „ökologische Wende“ in den 80er Jah­­ren hingelegt hat – es gilt vorsichtig zu sein mit weiteren Eingriffen, speziell mit weiterer Versie­ge­lung, Stichwort Zuschüttung des Hafenbeckens. Und es geht um Problembewusstsein für Überregulierung – die einerseits öko­logischen Eingriff, andererseits so etwas wie eine kulturelle Übersicherung bedeutet: Menschen wie Tiere, Stadt wie Land, Zentrum wie Rand brau­chen wirkliche freie Zonen, um atmen, leben und um sich letztlich un­gezwungen entwickeln zu können.

Kultur an der Donau. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit einige (Kul­tur)Projekte, die sich in der Überbrückung der Kluft von Stadt und Fluss be­müht haben: siehe Sommerakademie 1994, Fo­rum Metall, Forum Design, Klangwolke, Kultur­mei­le – großteils politisch manifestiert als „kulturelle Wen­de“. Aber auch hier vermuten die beiden Au­toren, dass die Zeit der groß­planerischen An­sät­­ze vorbei ist. Mit Lektüre des Diplom-Buches scheint es bezeichnend, dass das letzte Großpro­jekt, das Kul­turhauptstadtjahr Linz09, kein einziges nen­nens­wertes Donauprojekt zuwege ge­bracht hat, mit Aus­nahme eines aufgeschütteten Donau-Kies­stran­des. Das mag an einem fort­ge­führten „Iden­titäts­be­griff“ liegen, den Walter Kohl im Buch so bezeichnet hat: Anstelle des alten Images einer „dreckigen Stadt“ sei nach Beseitigung des Drecks lediglich „Friktionsfreiheit“ getreten. Ein für so­was wie „Identi­tät“ eher schwieriger Umstand. Die Au­toren Wiesmayr und Gilli merken insgesamt an, dass eine Zielsetzung, jede Brache und Freifläche ei­nem definierten Zweck zuführen zu müssen, al­so eine derartig gründlich fortgesetzte „kulturelle Wende“, deutlich übers Ziel hinaus schießt. Das führt so­zu­sagen direkt in eine städtische Mono­to­nie: „Es ist ein Ausmaß an Sauberkeit und Si­cher­heit er­reicht, das der räumlichen und kulturellen Diffe­renz keine Existenzberechtigung mehr einräumt.“

Der Donaufisch. Neben einer theoretischen An­näherung an den Wert der Freifläche, der Brache an sich, geht es um einen konkreten Rückfluss von Erkenntnissen zurück ins Gebiet. Es geht darum, die akademische Basis-For­schung einer innovativen Nutzung und einer konkreten Brechung der ge­werb­lichen Monotonie vor Ort zuzuführen. In einem ersten Schritt hat dies wieder direkt ans Hollaberergut zurückgefunden: Wies­mayrs Bru­der ist Koch, Berufsdonaufischer und Fischerei­meis­ter. Er möchte aus der Steckerl­fisch­braterei, die bereits die Eltern hier traditionell und weitgehend als Geheimtipp betreiben, ein ganz­jähriges Donau­fischlokal eröffnen. Mit dem neuen Restaurant­bau geht es dabei um nichts we­niger als eine unge­wöhn­liche Mischung aus Metho­dik und Umset­zung, um eine Ästhetik von [Schwemm­land], die die beiden Architekten praktisch zu Konstruk­teu­ren und Bastlern des vorgefundenen Materials ge­macht hat: Aus dem methodischen Überprü­fungs­gebiet Bindermichl/Spallerhof wurde etwa auch letztes Jahr ein Teil des Gelben Haus Bellevue mit­gebracht – das gilt es ebenfalls unter anderem als kulturellen Rest, als angeschwemmtes Versatz­stück für den „Neubau“ zu verarbeiten. Und nicht zuletzt geht es um ein insgesamt ökologisch-nachhaltiges Werken aller Beteiligten, die hier im Ha­fengebiet schließlich selbst leben. Man kennt die Zusammenhänge aus der Land­wirt­schaft und Fi­sche­rei, kann die Auswirkungen der Versiege­lung direkt be­ob­achten, wie etwa Fischsterben bei be­stimmten Wetterverhältnissen. So möch­te man sich mit dem Neubau auch weiterhin nicht ans öffentliche Kanalnetz anschließen lassen und präferiert eine prototypische Pflan­zen­klär­anlage, die allerdings noch zur amtlichen Begutachtung und Ge­neh­mi­gung ansteht.

Literatur als Widerstandspotential. Und ein Kommentar zur „Methodik zwischen Wissen­schaft und Intuition“: Es fällt auf, dass die wunderschön gestaltete Arbeit neben theoretischen Bezügen äu­ßerst großzügig mit litera­ri­schen Zitaten unterfüt­tert wurde – z. B. von Arhundati Roy über Geor­ges Perec bis hin zu Walter Kohl, der schon er­wähnt wurde. Man kann einerseits daraus schließen, dass der intuitive Teil in der Methodik dementsprechend schon „gefühlt“, aber dennoch sehr fundiert wahrgenommen wurde. Und damit wur­de konsequenterweise auch in der Auswahl der Methoden ein weitestgehender Differenzbereich aufgeschlagen – denn die Literatur stellt das an­de­re Ende der wissenschaftlichen Kategorisier­bar­keit dar, sie ist selbst Randständiges, Zwischen­zo­ne und ungewöhnlicher Blick. „Sich am Rand be­funden zu haben heißt, mit der Gefahr in Berüh­rung gekommen, am Ursprung der Kraft gewesen zu sein“, so die auch zitierte Mary Douglas ... Was sich möglicherweise immanent gegen eine Ver­wer­tung im großen Stil richtet, im Sinne einer vorgefundenen Realität: Denn im Hollaberergut liegt das Literarische, das Individuelle, das Wider­stän­dische selbst eingeschrieben – und das ist bei Weitem nicht das am wenigsten Kraftvolle.

1    Lustenfelden, Lustenau, Zizlau, St.Peter, Hafenviertel, Industrie­ge­biet, Gewerbegebiet, Überschwem­mungsgebiet, Polderland­schaft, Ruderallandschaft, …

Schwemmland. ÜberLeben im Zwischenraum; Hafenviertel Linz. Diplomarbeit von Bernhard Gilli & Christoph Wiesmayr. TU Graz; Fakultät Architektur; Institut für Stadt- und Baugeschichte, 2010.
Kontakt: lentos.benthos@gmail.com

Ars Electronica und „Repair“. Donaufisch vom Holla­be­rer wird auch bei der Ars Electronica gereicht, als lokaler Beitrag von „Slow Food“.

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09/10
FotoautorInnen: 
Franz Lahmer, Wiesmayr/Gilli

Hochwasser 1954 im Hollaberergraben (aus: private Sammlung Franz Lahmer)

Querschnitt durchs Gebiet, Estermannstraße (Wiesmayr/Gilli)

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