Das grosse Fressen
Dieses Verlangen, das ich fast immer habe, wenn ich einmal meinen Magen gesund fühle, Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in mir zu häufen. Besonders vor Selchereien befriedige ich dieses Verlangen. Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtslos wie eine Maschine. Die Verzweiflung, welche diese Tat selbst in der Vorstellung zur sofortigen Folge hat, steigert meine Eile.
Soweit Franz Kafka in seinem Tagebuch im Oktober 1911. Kafkas Werk wurde unzählige Male durch den Fleischwolf der Psychoanalyse gedreht. Beatrix Müller-Kampel und Wolfgang Schmutz halten in ihrem Kommentar zu dieser Eintragung fest, dass Kafka am meisten vor dem Anblick „des Vaters, wenn der vor Fett triefende Fleischstücke in seinen Mund schob“ geekelt habe. Kafkas geradezu fanatischer Vegetarismus sei auch Rache an dem fleischfressenden Vater gewesen. Zugleich, weil der Mensch stets ein ambivalentes Wesen ist, hatte Kafka wie jeder Vegetarier unterschwellige Attacken von Gier nach Fleisch. Niederschmetternde psychologische Wahrheit: Das, was du bekämpfst, bist du oft selbst. Um den armen Kafka aber nicht noch tiefer in das Elend der Widersprüchlichkeit als fleischlüsterner Vegetarier zu stoßen, empfehlen Müller-Kampel und Schmutz anschließend als Rezept Mandelschmarren. Der Rezensent, ein kulinarischer Barbar, kann nicht beurteilen, ob dieses Rezept ein schmackhaftes Resultat zur Folge hat.
Wolfgang Schmutz, in Alkoven lebender freier Journalist, und Beatrix Müller-Kampel, an der Uni Graz Neuere deutsche Literatur lehrend, begeben sich im Buch „Williges Fleisch, schwaches Federvieh“ auf eine höchst amüsante und aufschlussreiche Spurensuche durch die österreichische Literatur. Was haben die Geistesgrößen dieses Landes seit Jahrhunderten zum Thema Fressen und Saufen zu sagen? Oft genug sagt das kulinarische Verhalten etwas über soziale Hierarchien aus (Thomas Bernhard, Joseph Roth!). Oft ist es bloß (wiederum ambivalente) Triebabfuhr. Der schlimmste Lügenbold in diesem Zusammenhang: Der „Literaturheilige“ des Landes Oberösterreich, Adalbert Stifter. Ein Vielfraß und Säufer vor dem Herrn, suchte er in seinem literarischen Werk stets nach dem Guten, Wahren und Schönen. Einmal etwa lässt Stifter seinen Ich-Erzähler berichten: „Ich hatte in meiner Tasche noch Teile von meinem Mittagsmahle, und in meiner Flasche noch Wein. Ich sagte daher: ,Wenn Euer Ehrwürden erlauben, so nehme ich die Überbleibsel meines heutigen Mittagessens aus meinem Ränzchen heraus, weil sie sonst verderben würden.‘“ Und das ist nicht etwa ironisch gemeint, sondern bitterernst!
Schmutz und Müller-Kampel zeichnen im erhellenden Vorwort nach, was die simple Nahrungsaufnahme in dieses Spannungsfeld zwischen Lust und Sünde geraten ließ. Schuld war – die üblichen Verdächtigen! – die katholische Obrigkeit, die ihre sündigen Schäfchen in Zaum halten wollte. Christliche Zurichtung, bei der das „allergefährlichste Einfallstor sinnlicher Sünde (...) nicht in den unteren Regionen des Körpers (also im geschlechtlichen Verlangen, Anm.) sondern – im Mund“ ausgemacht worden sei. So schrieb Abraham a Sancta Clara 1709 in „Hundert Ausbündige Narren“: „An dem menschlichen Leib“ sei „kein heicklichers / kein delicaters / kein schleckerhaffters / bösers / fälschers /geschwinders / schädlichers / theurers / und lasterhaffters Glied als die Zungen“. Mit dieser Zunge, so Schmutz und Müller Kampel weiter, „werde Gott gelästert, werde betrogen und gelogen“.
Freilich, die Obrigkeit selbst hurte, fraß und soff. Ausdruck des Protests gegen diese Heuchelei war im 18. Jahrhundert die Figur des Hanswurst, eines wolllüstigen und dumpfen Wüstlings. Den Hanswurst lösten Mitte des 19. Jahrhunderts die kulturpessimistischen Figuren des Johann Nepomuk Nestroy ab: Ebenfalls Hanswürste, die aber WUSSTEN, dass sie sich wie Tiere verhielten. Freilich, mit Nahrungsaufnahme sind auch – gerne verdrängt gegenwärtig in Zeiten sich wie die Pest ausbreitender Kochshows – Kotzen und Scheißen verknüpft. Ein Werner Schwab hat diesen Ekel wunderbar im Stück „Die Präsidentinnen“ thematisiert:
Man stelle sich das einmal vor das geistige Auge: Mehl, Blutplasma, Speck, Geschmacksverstärker, Phosphate etcetera; keinerlei lebensnotdürftige Vitamine. Aber man muss den Symbolwert so einer Wurst sich rechnen lassen können. Das Würstel als Metapher für eine kulturelle Solidarität, wissen Sie, als billiger, massenhafter Zugang zum tierischen Eiweiß.
Beatrix Müller-Kampel, Wolfgang Schmutz: „Williges Fleisch, schwaches Federvieh. Das österreichische Literaturkochbuch“. mandelbaum verlag, Wien 2009, 304 Seiten.
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