Still & The Perfect Human
CandoCo (Can Do Company) ist eine der wenigen führenden zeitgenössischen Tanz-Kompanien für TänzerInnen mit und ohne körperliche Beeinträchtigung. Laut Eigendefinition von CandoCo ist es erklärtes Ziel, kreativ ambitionierte, außergewöhnliche Performances zu produzieren, die für das Publikum unterhaltsam und inspirierend sind. Dass dabei die Grenzen des zeitgenössischen Tanzes erweitert werden und vor allem die Wahrnehmung und der gedankliche Horizont darüber, „was Tanz IST und wer tanzen KANN“ aufs Positivste aufgebrochen wird, ist ein zentraler wie erfreulicher Nebenaspekt.
Wie so oft im Bereich von Tanz und Körperarbeit liegt der Anfang eines neu entwickelten Systems auch hier in einem Schicksalsschlag: Die Tänzerin Celeste Dandeker verunfallte auf der Bühne des London Contemporary Dance Theatre und landete im Rollstuhl. Jahre später übernahm sie die tanzende Hauptrolle im Rollstuhl in einem Film, lernte so Adam Benjamin kennen und gründete mit ihm im Jahr 1991 die CandoCo Dance Company, die sich bald zur führenden Kompanie ihrer Art in Großbritannien entwickelte. Zuspruch von Presse, Publikum und KollegInnen ist groß, bemerkenswert das umfangreiche Bildungsprogramm, um den Mangel an professionellem Training für beeinträchtigte TänzerInnen auszugleichen.
An die 30 Arbeiten wurden seit Bestehen der Company bei international renommierten ChoreographInnen in Auftrag gegeben und weltweit gezeigt. Die Saison 2008/09 zeigt Werke von Hofesh Shechter und Nigel Charnock, zwei aufregenden Londoner Choreographen, für die sieben TänzerInnen der Company, fünf Frauen und zwei Männer.
Hofesh Shechter hat in THE PERFECT HUMAN sehr einfache, provokante und in diesem Sinn effektive Sätze als immer wiederkehrendes Grundmuster eines visuell leicht verständlichen Stückes gesetzt, um auf ironische Weise die Stereotypen der Wahrnehmung zu hinterfragen und das Konzept des „perfekten Menschen“, der sich auf eine bestimmte Art und Weise bewegen und verhalten sollte (auf welche?), in Frage zu stellen. Die Stimme fragt: Why does he move like that? Seine Arme bewegen sich schlangenhaft um seinen Körper auf und ab, stoppen, setzen wieder an ... What does he want? Die Idee des „Perfekten“ verflüchtigt sich im Lauf der Performance tatsächlich vollständig, führt sich selbst ad absurdum. Was bleibt, sind die feinen Unterschiede, Ausdruck der Persönlichkeit.
Natürlich sucht das Auge des/der Betrachters/in zunächst danach, die körperlichen Behinderungen auszumachen: Eine Armprothese, sehr offensichtlich. Eine Tänzerin hat Beeinträchtigungen mit Hüften und Beinen, was den ganzen Bewegungsablauf fundamental verändert, eine dritte Beeinträchtigung an einem Bein, was man jedoch erst sehr spät im Verlauf des Abends bemerkt. Ich merke gerade, wie schwierig es ist, mit Worten die Bilder auf der Bühne wiederzugeben, den feinen Abstufungen gerecht zu werden. Denn es war wunderbar, diesem bewußten, verantwortungs- und liebevollem Umgang mit dem eigenen Körper zuzusehen, egal, ob die Grenzen durch Beeinträchtigung enger oder etwas weiter gesteckt sind. Im Gegenteil: Interessanter war die Abweichung, das trotzdem so flüssige Bewegungsgefühl, das Integrierte im differenzierten Gemeinsamen. Shechter hat in dieses Stück viele unisono-Phrasen wie eine Matrix gesetzt. Dieses Gerüst bildet die Grundlage für kraftvolle Energie einerseits und schafft gleichzeitig Raum für die individuelle Ausformung andererseits. Immer wieder werden weiße Masken eingesetzt, als Vehikel der Wahrnehmung und Demaskierung unserer Kommunikation.
Anders der Zugang von Nigel Charnock. STILL ist laut seiner eigenen Aussage ein sehr irreführender Titel für das Stück, in dem sich die TänzerInnen eigentlich ständig und viel und auf viele verschiedene Arten bewegen; und doch paßt es irgendwie, nicht nur wegen der weißen Laken, auf die sie am Schluss ihre Körper legen. Ein bisschen „still“, also Tod oder die Kippe zur Vergänglichkeit liegt in der Luft, obwohl es hier um das volle Leben geht, in all seinen Aspekten. Oder vielleicht kann man gerade dann aus dem Vollen schöpfen, wenn das mögliche Ende integriert ist, wer weiß ... Ein düsteres Element von Gefahr durchbricht auch immer wieder die Szenen von Lebenslust, Sehnsucht und Sexualität, vor allem letzeres war bis vor kurzem noch ein ziemliches Tabu-Thema in der Welt der Menschen mit Beeinträchtigung.
Charnock ist ein Meister des Wechsels: Auf ein aggressives Männer-Duo folgen Spieluhr-Frauen-Träume, nach dem ironischen Unterhosen-Tanz die ernsthafte Paar-Geschichte und nach dem romantischen: „dance me to the end of love“ der Sturm ins Publikum, das angehalten wird, die TänzerInnen zu beschnüffeln. Die Beziehung PerformerIn – Publikum ist elementar. Letztlich interessieren ihn immer nur die Menschen, wie sie miteinander tun und kommunizieren, und was übrigbleibt, wenn man alle Schichten der Form abgeschält hat.
Die Company genießt ganz offensichtlich diese Palette der Ausdrucksmöglichkeiten, sie schmeißen sich rum, schreien, heulen, küssen, kämpfen, lieben und transportieren wunderbar dieses Gefühl von: Yes, anything goes – alles ist erlaubt, weil alles im Leben enthalten ist. Spätestens an diesem Punkt des Abends hat man völlig vergessen, dass es hier um Beeinträchtigung–nicht Beeinträchtigung geht, beeinträchtigt ist man höchstens selber, wenn man sieht WIE berührend und sensibel dieses Ensemle sich gegenseitig hochhebt und trägt.
Festival sicht:wechsel 2009
Nach dem ersten Festivalschwerpunkt sicht:wechsel:tanzt im Jänner wird es 2009 weitere Schwerpunkte mit zahlreichen Programmpunkten und Workshopangeboten geben: Im April sicht:wechsel:spielt, von Juli bis August sicht: wechsel:bewegt und im November sicht:wechsel:tagt.
Mehr Informationen unter www.sicht-wechsel.at
Bei sicht:wechsel:tanzt gab es auch ein umfangreiches Workshopangebot.
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