„… Interessanter Casus …“
Der Erfolg von Woyzeck verdankt sich seiner archetypischen Elementarkraft. Über einen Angriff auf klassen- und standesgesellschaftliche Machtverhältnisse hinaus lässt sich das Drama als eine Studie der menschlichen Gemeinheit, die im Wesentlichen in der Indifferenz begründet liegt, der Beschränktheit und Fragilität der menschlichen Seele, die zu fast aller Zeit im Alltäglichen und unmittelbar-Gegebenen verhaftet bleibt, bis hin zur beinahe existenzialistischen Parabel auf die Bedrohtheit des Lebens durch fremdartige, dunkle Mächte begreifen.
Zunächst – und eben auch wieder zuletzt, wenngleich auch unter einem allgemein gültigeren, zeitloseren Sinn – ist der Woyzeck ein Sozialdrama. Woyzeck ist ein Dutzendmensch und vor allem ein Deklassierter. Ein ausgedienter Soldat, der für seinen Hauptmann für kargen Lohn Mädchen-für-alles-Dienste leistet, und von diesem in hohlen Phrasen über das „Höhere im Leben“ und die „Moral“ belehrt wird („Moral ist, wenn man moralisch ist.“). Der sich für einen ebenso kargen Lohn für die Experimente eines Arztes hergeben muss, die dem irrsinnigen Zweck dienen, die Kosten für die Kriegsführung herabzusetzen, indem der Soldat Woyzeck als Versuchkaninchen auf eine neunzigtägige einseitige Erbsendiät gesetzt wird. Immerhin erweist sich Woyzeck dabei als „interessanter Casus“. Der aufgrund seiner Mangelernährung eine Psychose entwickelt. Der mit dem Geld, das niemals ausreicht, für Frau und Kind zu sorgen hat. Der feststellen muss, dass ihm die Frau untreu wird, weil sie sich nach einem besseren Leben sehnt, beziehungsweise ganz einfach eben so. Und der am Ende als eine zu nichts reduzierte Seele die Geliebte tötet.
Die Komplexität, in der die Büchnersche Vorlage alle Dimensionen zwischen einem „begrenzten“ polemischen Krieg gegen die zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse und einem zeitlosen Fatalismus über die Unnatur des Menschen durchleuchtet, beziehungsweise in allen ihren Aussagen gleichzeitig in sich umfasst, liefert einen dankbaren Stoff für Interpretationen. In der am Landestheater inszenierten Version von Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan wird mehr gesungen als gesprochen – schließlich ist der Büchnersche Duktus als einziges nicht mehr so ganz zeitgemäß –, im Zentrum steht die Aussage „Misery Is The River Of The World“. Es wird viel gerannt und gekeucht, das eigentlich Anstrengende sind freilich die ständigen „Ruhig, Woyzeck, nicht so hastig!“-Sager von Woyzecks Vorgesetzten. Ebenso, auch rein akustisch beunruhigend sind die immer wiederkehrenden Versicherungen, dass Woyzeck „ein guter Mensch“ sei (wenngleich nicht so „moralisch“ wie die, die sozial über ihm stehen). Das Bühnenbild beinhaltet das Weite wie auch das Klaustrophobische des gehetzten Auf-der-Stelle-Tretens. Die Charaktere sehen so aus, wie man es sich vorstellt, vom Spätphasen-Marlon Brando als Hauptmann bis zum gegelten und reichlich athletisch-oberflächlich wirkenden Tambourmajor. Die Musiker auf der Bühne wirken, wenn sie nicht spielen, wie ein gespenstisch-dekadentes Publikum, das lüstern auf das sich abzeichnende Unheil blickt … vielleicht ein Spiegel auf die Gestalten, die ihnen vor der Bühne gegenüber sitzen.
Was haben wir nun aber gelernt? Etwas Zeitloses? Oder nur, dass das Hoffnungslose auch immer schon zeitlos war? Thomas Bernhard erzählt in „Meine Preise“ von seiner Begegnung mit dem deutschen Physiker Werner Heisenberg, der bei derselben Veranstaltung einen Preis für seine exzellenten populärwissenschaftlichen Sachbücher entgegen nehmen durfte. Er, Heisenberg, frage sich immer wieder, warum die Schriftsteller alles immer mit so traurigen Augen wahrnehmen würden. Die Welt sei doch nicht so, habe der Physiker in einem persönlichen Gespräch beim anschließenden Essen sinniert. „Woraufhin ich naturgemäß nichts zu sagen wusste“, wie Bernhard zugeben musste.
Was ich nicht verstehe, das heißt, vielleicht versteh’ ich’s ja, aber es nervt mich, also, warum müssen die Schauspieler immer wieder mal so herumschreien? Im echten Leben geht’s ja auch nicht so zu, ich schreie ja auch nicht, und ich kenne auch keinen, der das tut, das heißt, bestenfalls wenige. Was hat das denn mit Authentizität zu tun? Ich meine, jeder fragt sich ja was anderes, über das, was er im Theater so gesehen hat oder überhaupt, je nach mentaler Ausstattung und Lebenserfahrung und persönlichen Interessen, wenn sich jeder dasselbe fragen würde, wären wir ja alle Maschinen, aber ich frag mich halt am allermeisten das.
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