Idiomatische Sprachkunststadtwerke
Idiome.
Obwohl sie erst in die dritte Ausgabe gehen, haben sie schon eine wechselvolle Geschichte. Aber vielleicht ist gerade diese Unruhe nötig, um an die Ränder, die gar keine sind, zu führen. Die Rede ist von „Idiome“, dem Heft für neue Prosa, das der in Wels geborene Schriftsteller Florian Neuner herausgibt. Vor drei Jahren gründete Neuner gemeinsam mit Lisa Spalt die „Idiome“. Vorerst erscheinen sie in Spalts „kleiner idiomatischen Reihe“. Daher auch der Name. Ihr und Neuners Interesse war, den Fokus auf einen unterrepräsentierten Bereich der Literatur zu richten. Es gibt diverse Foren für Lyrik, eine überwuchernde Literaturbetrieblichkeit marktgängiger Prosa, die sich mitunter wortreich als angebliches Sprachkunstwerk ausgibt und doch nur eine Kolportage von Inhalten ist: die ganze Romanschreiberei, deren Stapeln man in Buchhandlungen zum Opfer fällt. Nicht minder die Sprachkunst. „Als Texte interessieren mich nur die, die ästhetisch ihr Material reflektieren“, sagt Neuner und genau jene dieser Art finden in „Idiome“ Platz. Wobei man den Autorenlisten ansieht, dass es ein weiträumiger Platz ist. Es geht nicht um die Behauptung, man könne nur konkrete Poesie machen. Man findet auch Narratives, wenn es auf einer Metaebene reflektiert worden ist. Die Neugründung stieß nicht nur zwischen Berlin und Wien auf Resonanz. Diese durfte man nie wieder einschlafen lassen. Die zweite Nummer hat Florian Neuner im Alleingang gemacht. Mittlerweile ist es gelungen, die „Idiome“ unter das Dach des Klever Verlags zu stellen und damit eine Kontinuität zu gewährleisten, die nicht von logistischen Dingen aufgefressen wird. Ralph Klever ist Mitherausgeber. Ein wichtiger Fokus ist auch, dass vergessene Referenztexte der Sechziger und Siebziger wieder in Erinnerung gerufen werden. Gerade weil da, meint Neuner, viel abgebrochen ist und nicht mehr rezipiert wird, was für das Schreiben in der Gegenwart relevant sein könnte. Schon in der ersten Ausgabe gab es eine Veröffentlichung aus dem Nachlass von Helmut Heißenbüttel.
Die Szene der innovativen Literatur – die „sich in Wien als Avantgarde vorkommen“ und dabei „nichts lesen, was drei Zentimeter neben ihrem Bereich ist.“ – trägt mitunter Scheuklappen. Oder wer kennt hier Jürgen Ploog, der „vielleicht konsequenteste Exponent einer Gruppe von Autoren, die in Deutschland die radikaleren Impulse der US-amerikanischen Beat-Literatur adaptierten“ und bis heute wenig Beachtung im Literaturbetrieb findet. Aber für jene, die an diesem Feld interessiert sind, ein ganz großer Name ist.
Flughäfen sind Konstruktionen aus Stahl & Beton, die von körperlosen Geisterstimmen widerhallen, deren Gesang gelegentlich zu gewaltigen Chorälen anschwillt & die Reisenden bis ins Mark erschüttert. Verzweifelt flüchten sie sich in dunkle Ecken & Sicherheitsschleusen, was medizinische Betreuer für einen Anfall von Reisekoller halten. Viele sind bereits geistig verwirrt, bevor sie ins Flugzeug steigen, & am Reiseziel glauben sie, dass sie in einer Klapsmühle gelandet sind. (Jürgen Ploog, „Stadt toter Bilder“, in: Idiome Nr. 3)
Ploogs Text ist in der neuen Ausgabe der „Idiome“ zu finden, wie Jürgen Link ein Schwerpunkt in diesem Heft zukommt. Der emeritierte Professor für Literaturwissenschaft ist ein politisch aufrechter Altachtundsechziger, der nie umgeknickt oder übergelaufen ist. Er hat vor zwei Jahren seinen großen experimentellen Roman „Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung“ (Asso Verlag) veröffentlicht. Dieses 1000 seitige Buch beschäftigt sich mit der westdeutschen Geschichte. Im Hintergrund das Ruhrgebiet, wo in den Sechzigern mehrere neue Unis gegründet wurden, an denen Link auch gelehrt hat. Vorher gab es dort überhaupt keine Universitäten, da man es zu gefährlich fand, das Proletariat und die Intelligenz zusammenkommen zu lassen. Heute ist praktische politische Arbeit zwischen Intellektuellen und Arbeiterschaft nirgendwo enger als im Ruhrgebiet vernetzt. Dies ist auch das Feld für Links Roman, auf dem er einerseits von der generationsspezifischen Politisierung erzählt und andererseits in sogenannten „Simulationen“ Zukunftsszenarien entwirft. Ein sehr interessantes Spiel mit Zeitebenen: Was hat man 1975 gedacht, dass zwanzig Jahre später passiert? Da ist vieles, wie die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, prognostiziert. Link hat neben seiner wissenschaftlichen Arbeit zwanzig Jahre an seinem Roman, der alles andere als „eine Germanistenprosa ist“, gearbeitet. „Ein großartiges Projekt von einem politisch aktiven Menschen, das in jeder Weise ernst zu nehmen ist.“, unterstreicht Florian Neuner. In „Idiome“ findet sich Material rundum den Roman und ein längeres Interview mit Jürgen Link.
Sie hatten sich mit Marx gestritten und ihm gesagt, dass seine Aussagen zwar eigentlich alle richtig gewesen wären, aber dass er einen entscheidenden Fehler gemacht hätte, er hätte nicht bedacht, wie seine Schriften wirken würden, er hätte seine Wirkung nicht vorausgesehen, er hätte dem V-Träger alles verraten und hätte seine Sachen besser für sich behalten müssen. Marx hätte gesagt, dass er leider zum Bahnhof müsste, weil sein Zug führe, aber er hätte ja durchaus vieles verschwiegen, das könnten sie nicht wissen, zum Beispiel das ganze Problem der Müdigkeit und des Schlafes, die Revolutionen wären gescheitert, weil die Revolutionäre viel zu wenig geschlafen hätten, deshalb würde er im Zug schlafen. (Jürgen Link, „Paralipomenon für Rolf Schwendtner“, in: Idiome Nr. 3)
Ruhrtext.
Es kann ja nicht immer so bleiben. Zwischen Emscher & Ruhr. Es ist eine umstrittene Landschaft von der hier berichtet werden soll. Landschaft oder das, was von ihr geblieben ist. Fetzen, Reste, die die Industrie zurückgelassen hat. Eine eigenwillige Natur & eine neuartige Landschaft. Manchmal hält der Nebel Wochen an. In dieser schweren, kalten Landschaft. Die Stadt ist wie ein Gerüst oder wie ein Netzwerk, in dessen Felder jedermann die Dinge einordnen kann, an die er sicher erinnern mag. Die Gegenwart bestimmt das Gesicht dieser Landschaft. (Florian Neuner, „RUHRTEXT – Eine Revierlektüre“, Klever Verlag Wien)
Aus unterschiedlichen Gründen hielt sich Florian Neuner immer wieder im Ruhrgebiet auf. Vor drei Jahren hat er begonnen, sich mit dieser Region systematisch zu beschäftigen. Bis klar wurde, dass es ein dickes Buch werden muss. „Eine Revierlektüre“, so der Untertitel und dies ist durchaus wortwörtlich zu nehmen: Ein Lesen der Stadt, in ihren Aufschriften, Straßennamen bis hin zu relativ detaillierten historischen Hintergrundinformationen. Zum anderen wollte Neuner räumliche Zusammenhänge dechiffrieren und damit vergegenwärtigen. In der bildenden Kunst gibt es eine große Konjunktur in der Auseinandersetzung mit urbanistischen Themen, die zumindest in der deutschsprachigen Literatur bisher kaum Niederschlag gefunden haben. Die Literaturwissenschaft redet unter Umständen noch von Schauplätzen. Bei Neuner gibt es keine Schauplätze. Die Stadt ist das Thema selbst. Sein Text ist formal der Stadtlandschaft des Ruhrgebiets nachgebildet. Eine große Collage aus Siedlungskernen, Industriebrachen, Hinterhöfen der Städte oder Fragmenten von Landwirtschaft etc. etc. Man kann im Buch, wie in der Landschaft, kreuz und quer seine Wege ziehen, in einem Hierarchien verweigerndem Dschungel mäandern, den Jürgen Link als Rhizom bezeichnet hat. Das Rückgrat des Buches bilden 28 „Derivés“, die von Neuners planlosen Stadtirrfahrten und Erwanderungen erzählen. Dazwischen finden sich Kapitel, die mehr in die Archive und die Historie gehen. „Die Landschaft dechiffrieren, damit man auch weiß, womit man es zu tun hat.“
Florian Neuner, geboren 1972 in Wels, lebt als Schriftsteller und Journalist (u. a. „Deutschlandradio“ und „junge Welt“) in Berlin und Bochum. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, 2003–06 Mithg. von „perspektive. hefte für zeitgenössische literatur“. Publikationen (u. a.): „Zitat Ende“, 2007. „Ruhrgebiet“ („Europa erlesen“, mit Thomas Ernst, 2009)
linzer notate 4/10 bringt am Fr 15. Oktober 2010, um 19.30 h einen literarischen Abend in der Künstlervereinigung MAERZ mit Jürgen Link, Jürgen Ploog, Liesl Ujvary. – Präsentation der 3. Ausgabe der „IDIOME. Hefte für neue Prosa“
Ruhrtext. Florian Neuner und Pauhof Architekten im afo, am Mi 17. November 2010
Idiome und Ruhrtext sind im Klever Verlag Wien erschienen.
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