Idiomatische Sprachkunststadtwerke

Gesellschaftskritisch geben sich die linzer notate im Oktober. Mit der Präsentation der Nummer 3 der Zeitschrift „IDIOME. Hefte für neue Prosa“ widmet sich der Herausgeber Florian Neuner gewichtigen Altmeistern der bundesdeutschen linken Szene und der deutschen Pop-Szene. Norbert Trawöger stellt die Idiome und Florian Neuner vor.

Idiome.
Obwohl sie erst in die dritte Ausgabe gehen, ha­ben sie schon eine wechselvolle Geschichte. Aber vielleicht ist gerade diese Unruhe nötig, um an die Ränder, die gar keine sind, zu führen. Die Re­de ist von „Idiome“, dem Heft für neue Prosa, das der in Wels geborene Schriftsteller Florian Neu­ner herausgibt. Vor drei Jahren gründete Neuner ge­meinsam mit Lisa Spalt die „Idiome“. Vorerst er­scheinen sie in Spalts „kleiner idiomatischen Rei­he“. Daher auch der Name. Ihr und Neuners In­teresse war, den Fokus auf einen unterrepräsentierten Bereich der Literatur zu richten. Es gibt di­verse Foren für Lyrik, eine überwuchernde Lite­ra­turbetrieblichkeit marktgängiger Prosa, die sich mitunter wortreich als angebliches Sprach­kunstwerk ausgibt und doch nur eine Kolportage von Inhalten ist: die ganze Romanschreiberei, de­ren Stapeln man in Buchhandlungen zum Opfer fällt. Nicht minder die Sprachkunst. „Als Texte interessieren mich nur die, die ästhetisch ihr Ma­te­rial reflektieren“, sagt Neuner und genau jene dieser Art finden in „Idiome“ Platz. Wobei man den Autorenlisten ansieht, dass es ein weiträumiger Platz ist. Es geht nicht um die Behauptung, man könne nur konkrete Poesie machen. Man fin­det auch Narratives, wenn es auf einer Meta­e­be­ne reflektiert worden ist. Die Neugründung stieß nicht nur zwischen Berlin und Wien auf Re­so­nanz. Diese durfte man nie wieder einschlafen lassen. Die zweite Nummer hat Florian Neuner im Alleingang gemacht. Mittlerweile ist es gelungen, die „Idiome“ unter das Dach des Klever Verlags zu stellen und damit eine Kontinuität zu gewährleisten, die nicht von logistischen Dingen aufgefressen wird. Ralph Klever ist Mitherausgeber. Ein wichtiger Fokus ist auch, dass vergessene Re­ferenztexte der Sechziger und Siebziger wieder in Erinnerung gerufen werden. Gerade weil da, meint Neuner, viel abgebrochen ist und nicht mehr rezipiert wird, was für das Schreiben in der Gegen­wart relevant sein könnte. Schon in der ersten Aus­gabe gab es eine Veröffentlichung aus dem Nach­lass von Helmut Heißenbüttel.

Die Szene der innovativen Literatur – die „sich in Wien als Avantgarde vorkommen“ und dabei „nichts lesen, was drei Zentimeter neben ihrem Be­reich ist.“ – trägt mitunter Scheuklappen. Oder wer kennt hier Jürgen Ploog, der „vielleicht konsequenteste Exponent einer Gruppe von Autoren, die in Deutschland die radikaleren Impulse der US-amerikanischen Beat-Literatur adaptierten“ und bis heute wenig Beachtung im Litera­tur­be­trieb fin­det. Aber für jene, die an diesem Feld in­te­res­siert sind, ein ganz großer Name ist.

Flughäfen sind Konstruktionen aus Stahl & Beton, die von körperlosen Geisterstimmen widerhallen, deren Gesang gelegentlich zu gewaltigen Chorälen anschwillt & die Reisenden bis ins Mark erschüttert. Verzweifelt flüchten sie sich in dunkle Ecken & Sicherheitsschleusen, was medizinische Betreu­er für einen Anfall von Reisekoller halten. Viele sind bereits geistig verwirrt, bevor sie ins Flug­zeug steigen, & am Reiseziel glauben sie, dass sie in einer Klapsmühle gelandet sind. (Jürgen Ploog, „Stadt toter Bilder“, in: Idiome Nr. 3)

Ploogs Text ist in der neuen Ausgabe der „Idio­me“ zu finden, wie Jürgen Link ein Schwerpunkt in diesem Heft zukommt. Der emeritierte Pro­fes­sor für Literaturwissenschaft ist ein politisch aufrechter Altachtundsechziger, der nie umgeknickt oder übergelaufen ist. Er hat vor zwei Jahren seinen großen experimentellen Roman „Bangema­chen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung“ (Asso Verlag) ver­öf­fentlicht. Dieses 1000 seitige Buch beschäftigt sich mit der westdeutschen Geschichte. Im Hinter­grund das Ruhrgebiet, wo in den Sechzi­gern mehrere neue Unis gegründet wurden, an denen Link auch gelehrt hat. Vorher gab es dort überhaupt keine Universitäten, da man es zu ge­fährlich fand, das Proletariat und die Intelligenz zu­sammen­kom­men zu lassen. Heute ist praktische politische Arbeit zwi­schen Intellektuellen und Arbeiterschaft nirgendwo enger als im Ruhrgebiet vernetzt. Dies ist auch das Feld für Links Roman, auf dem er einerseits von der generationsspezifischen Politisie­rung erzählt und andererseits in sogenannten „Si­mulationen“ Zukunftsszenarien entwirft. Ein sehr interessantes Spiel mit Zeitebenen: Was hat man 1975 gedacht, dass zwanzig Jahre später passiert? Da ist vieles, wie die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, prognostiziert. Link hat ne­ben seiner wissenschaftlichen Arbeit zwanzig Jahre an seinem Roman, der alles andere als „eine Ger­manistenprosa ist“, gearbeitet. „Ein großartiges Pro­jekt von einem politisch aktiven Menschen, das in jeder Weise ernst zu nehmen ist.“, unterstreicht Florian Neuner. In „Idiome“ findet sich Material rundum den Roman und ein längeres Interview mit Jürgen Link.

Sie hatten sich mit Marx gestritten und ihm ge­sagt, dass seine Aussagen zwar eigentlich alle rich­­tig gewesen wären, aber dass er einen entschei­den­den Fehler gemacht hätte, er hätte nicht be­dacht, wie seine Schriften wirken würden, er hät­te seine Wirkung nicht vorausgesehen, er hät­te dem V-Träger alles verraten und hätte seine Sa­chen besser für sich behalten müssen. Marx hätte gesagt, dass er leider zum Bahnhof müsste, weil sein Zug führe, aber er hätte ja durchaus vieles ver­schwiegen, das könnten sie nicht wissen, zum Beispiel das ganze Problem der Müdigkeit und des Schlafes, die Revolutionen wären gescheitert, weil die Revolutionäre viel zu wenig geschlafen hätten, deshalb würde er im Zug schlafen. (Jürgen Link, „Paralipomenon für Rolf Schwendtner“, in: Idi­o­me Nr. 3)

Ruhrtext.
Es kann ja nicht immer so bleiben. Zwischen Em­scher & Ruhr. Es ist eine umstrittene Landschaft von der hier berichtet werden soll. Landschaft oder das, was von ihr geblieben ist. Fetzen, Reste, die die Industrie zurückgelassen hat. Eine eigenwillige Natur & eine neuartige Landschaft. Manch­mal hält der Nebel Wochen an. In dieser schweren, kal­­ten Landschaft. Die Stadt ist wie ein Ge­rüst oder wie ein Netzwerk, in dessen Felder je­der­mann die Dinge einordnen kann, an die er si­cher erinnern mag. Die Gegenwart bestimmt das Ge­sicht dieser Landschaft. (Florian Neuner, „RUHR­TEXT – Eine Revierlektüre“, Klever Verlag Wien)

Aus unterschiedlichen Gründen hielt sich Florian Neuner immer wieder im Ruhrgebiet auf. Vor drei Jahren hat er begonnen, sich mit dieser Re­gi­on sys­tematisch zu beschäftigen. Bis klar wurde, dass es ein dickes Buch werden muss. „Eine Re­vier­lektüre“, so der Untertitel und dies ist durchaus wortwörtlich zu nehmen: Ein Lesen der Stadt, in ihren Aufschriften, Straßennamen bis hin zu relativ detaillierten historischen Hintergrund­in­for­ma­tionen. Zum anderen wollte Neuner räumliche Zu­sammenhänge dechiffrieren und damit vergegenwärtigen. In der bildenden Kunst gibt es eine gro­ße Konjunktur in der Auseinandersetzung mit ur­banistischen Themen, die zumindest in der deutschsprachigen Literatur bisher kaum Nieder­schlag gefunden haben. Die Literatur­wissen­schaft redet unter Umständen noch von Schauplätzen. Bei Neuner gibt es keine Schauplätze. Die Stadt ist das Thema selbst. Sein Text ist formal der Stadt­landschaft des Ruhrgebiets nachgebildet. Eine gro­ße Collage aus Siedlungskernen, Industrie­bra­chen, Hinterhöfen der Städte oder Fragmenten von Land­wirtschaft etc. etc. Man kann im Buch, wie in der Landschaft, kreuz und quer seine Wege ziehen, in einem Hierarchien verweigerndem Dschungel mä­andern, den Jürgen Link als Rhizom bezeichnet hat. Das Rückgrat des Buches bilden 28 „Deri­vés“, die von Neuners planlosen Stadtirrfahrten und Erwanderungen erzählen. Dazwischen finden sich Kapitel, die mehr in die Archive und die His­torie gehen. „Die Landschaft dechiffrieren, da­mit man auch weiß, womit man es zu tun hat.“

Florian Neuner, geboren 1972 in Wels, lebt als Schriftsteller und Journalist (u. a. „Deutschlandradio“ und „junge Welt“) in Berlin und Bochum. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, 2003–06 Mithg. von „perspektive. hefte für zeitgenössische literatur“. Publikationen (u. a.): „Zitat Ende“, 2007. „Ruhrgebiet“ („Euro­pa erlesen“, mit Thomas Ernst, 2009)

linzer notate 4/10 bringt am Fr 15. Oktober 2010, um 19.30 h einen literarischen Abend in der Künstlervereinigung MAERZ mit Jürgen Link, Jürgen Ploog, Liesl Ujvary. – Präsentation der 3. Aus­gabe der „IDIOME. Hefte für neue Prosa“

Ruhrtext. Florian Neuner und Pauhof Architekten im afo, am Mi 17. November 2010

Idiome und Ruhrtext sind im Klever Verlag Wien erschienen.

6
Zurück zur Ausgabe: 
10/10
FotoautorInnen: 
MAERZ

& Drupal

spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014