Kultur ist ein Umweg der sich lohnt – nicht nur für die elitäre Oberschicht

Kultur als Erziehung oder sozialisiertes Bildungselement ist Teil einer erfolgreichen Herrschafts­praxis. Es liegt an uns, Kultur so weit zu verstehen und in unserer Alltagspraxis lebendig werden zu lassen, dass wir uns von oberschichtigen Kulturklischees nicht bluffen und austricksen lassen. Herbert Lachmayer beschreibt Ausgrenzungsmechanismen der Oberschicht und appelliert für einen emanzipatorischen Kulturbegriff.

Wenn heute davon gesprochen wird, dass wir mehr und mehr in einer „Zwei-Klassen-Gesell­schaft“ leben, dann wird die Begehrlichkeit, der so­genannten Oberschicht anzugehören, immer an­gestrengter und unerbittlicher. Das Gefälle nach unten kennt nur noch wenige große Stufen. Der ehemalige „Mittelstand“ ist zu dünnem Eis geworden. Das Proletariat von einst hat an politischer Kraft weitgehend ausgespielt. Viele Arbeiter versuchen schon seit Jahrzehnten ihren Kindern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Generell be­trifft der soziale Überlebenskampf inzwischen Vie­le mehr – und Armut wird groß. In dieser be­schleu­nigten Leistungsgesellschaft sind die Chan­cen zu gelungenen Lebenskarrieren einer oberschichtigen Elite vorbehalten. Deren Kinder wach­sen schon vor und in der Schule in die relevanten Netzwerke hinein, lernen das „Herr­schafts-Wissen“ von den bekannten Kindes­bei­nen an – was soviel heißt, wie: mit welcher Art und Intensität von Auftreten verschafft man sich gegenüber unteren Schichten mit geringfügigstem Aufwand Respekt, positioniert sich als Führungs­persönlichkeit, ohne je einen Kompetenz- oder Leis­tungsnachweis erbracht zu haben. Um solche „Mächtigkeit“ des „symbolischen Kapitals“ einer ge­nuinen Oberschichts-Herkunft geht es auch, wenn wir von Kultur sprechen.

Kultur als Erziehung oder sozialisiertes Bildungs­element ist Teil einer erfolgreichen Herr­schafts­praxis, welche letztendlich darin besteht, gesellschaftliche Hierarchien durch ausgrenzende Ver­haltensweisen, die Selbstdarstellung eigener Sou­veränität als gleichsam „naturgegebener“ Ent­schei­dungs- und Handlungskompetenz etc. spontan zu erzeugen. Dazu hat die frühere „Hoch­kul­tur“ auch immer gedient, dass durch Ge­schmacks­sensibilisierung Codes hervorgebracht wurden, welche die Zugehörigkeit zu niederen Ge­sellschaftsschichten sofort erkennen ließen. So ist es bis heute Menschen „einfacher“ Herkunft ver­wehrt, in die bestehenden, ehemals ständestaatlich-monarchistischen „höheren“ Kreise einzudringen – die Chance, dabei zu sein wird ausschließlich durch die Güte oder Willkür besagter Oberschicht gewährt. Nun zählt für die Wirt­schafts­karrieren von heute die Herkunftsfrage bei Weitem nicht mehr so viel, wie es noch in der Zwischenkriegszeit der ersten Republik gegolten haben mag. Allerdings sind in Österreich einige der vorbildsuggestiven Karrieren an die Wert­hal­tungen dieser konservativ-katholischen Netzwer­ke nach wie vor geknüpft – wie andererseits beispielsweise auch die sozialdemokratische Ikonen Bruno Kreisky für ein liberales Klein- und Mit­tel­bürgertum zum Vorbild von Individualismus ge­worden war. Nur wird das „gehobene Bildungs­bür­gertum“ von einst heute einmal mehr von einem weniger „gehobenen Ausbildungs-Bürger­tum“ ersetzt – bei diesem brummt das Turbo-Ego als Karrieremotor, welcher die so genannten Kul­tur-Bedürfnisse meist übertönt.

Kulturelle Kompetenz ist immer auch soziale Kom­petenz – und geht als kulturelle Alltags­krea­ti­vi­tät weit über jenen restriktiven und ausgrenzenden Kulturbegriff hinaus. Gerade im europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs 2008 wird deutlich, dass ein weltoffener Begriff von kul­tureller Kompetenz immer schon interkulturell relevant ist. Die weltweite Internet- und Ju­gend­kultur, die globalisierten Spannungen zwischen der US-europäischen Zivilisationsmacht, dem Islam und einmal mehr der Produktivkraft China stellen manche konservative Wert­hie­rar­chie von einst etwas ins Abseits, obwohl diese in Österreich immer noch Konjunktur haben. So ist auch Kulturpolitik immer als Gesellschaftspolitik zu verstehen – und die Frage der Kulturange­hö­rigkeit nie wertfrei zu nehmen. Beispielsweise wird das Wort „Kultur“ meist von jenen in den Mund genommen, die sich davon gesellschaftliches Prestige und individuelle Karriere erwarten. Duftnoten, Dresscodes und Small-talk-Bildung las­sen die Zugehörigkeit zu neuen Oberschichten mit immer wieder überraschenden Varianten der Ver­haltens-Arroganz und strategischer Überlegenheitsgesten fast schon plakativ erkennen. An dieser Vergröberung des Lebensstils neuer Herr­schafts­schichten (den „Neureichen“ eben) baut sich selbstverständlich das traditionell-konservative Bürgertum und die im Management erfolgreiche Aristokratie der alten Familien sofort wieder auf. Schließlich könne „man“ es eben besser.

So grenzt „man“ die Emporkömmlinge wieder aus. Da zeigt sich unvermutet schon an kleinsten De­tails, dass „jemand“ überhaupt nicht „dazugehört“. Mit dem Herrschaftsgestus der Willkür kann so ein „bemühter Streber“ sofort abgesondert und aus­geschieden werden, als wäre er nie vorhanden gewesen. Bei diesem Vorgang plötzlich „Luft“ zu sein, spielen die Versatzstücke früherer Bil­dung eine entscheidende Rolle in der Ausgren­zungs­technik. Da reicht schon mal ein mattes Lä­cheln, oder ein bemühter Blick, um das Einver­ständnis mit „Seinesgleichen“ herzustellen, dass eine/r „im Kreise“ eben zu viel ist und von Mi­nute zu Minute „mühsamer“ wird. Und schon ist es aus. Auf ein, zwei Anspielungen nicht reagieren zu können reicht, um augenblicklich Licht­jah­re vom sozialen Parkett entfernt zu sein – dort wird Kultur geatmet, oder wenigstens das, was man dafür hält. Dabei glänzen die IN-People konservativer Herkunft meist mit dem cultural content, den sie sich zwischenzeitlich mal „reingezogen“ oder „runtergeladen“ haben. Denn mit der Kul­tur verhält es sich ähnlich, wie mit dem Ge­schmack. Wenn man glaubt, dass es reicht, zwei Stunden am Tag Geschmack zu haben – dann hat man eben keinen. Individualismus ist ein begehrtes psychisches Outfit, das man sich eben nicht konsumistisch aneignen kann – es bedarf stets einer minimalen Kulturproduktivität im eigenen Alltag, damit man Kultur überhaupt verstehen kann. Da geht es schon um LebensArt, welche al­lerdings bei besagter Oberschicht kaum noch an­getroffen werden mag – Lifestyle ist zu wenig.

Die Lifestyle-Eliten traditionalistischer Prägung sug­gerieren allerdings schon mit ein paar wenigen Wissensfiguren aus der Habitus-Kiste elterlicher Arroganzformen den Eindruck einer dynastischen Verwurzelung im Kulturgut von „wirkli­cher Substanz“. Dieser Zusammenhang vom Ges­tus selbstverständlicher Überlegenheit, gebunden an eine anekdotenhafte Kultur (Geschichten statt Geschichte), die in der Familie schon immer da war, ist ein soziales Kampfmittel besonderer Art. Man tut so, als hätte „man“ noch die gediegene Lebensart von einst, wie sie eben nur angeboren sein kann – schon dünkt man sich von „primitiven Lifestyle-Chique“ meilenweit entfernt, ob­gleich „man“ über den Tellerrand der eigenen Klischeebildung auch nicht hinausreicht. Wiede­rum gehen heute allerdings der „Management-Absolutismus“ der „neuesten“ Reichen und die Füh­­rungskompetenz von Abkömmlingen besagter Adelsfamilien bestens zusammen. All das wird durch die Medien und Fernsehserien österreichweit verbreitet und zum sozialen Urgestein unserer „Heimat“ verklärt. So ist es an uns, Kultur so weit zu verstehen und in unserer Alltagspraxis le­bendig werden zu lassen, dass wir uns von diesen oberschichtigen Kulturklischees nicht bluffen und austricksen lassen – gerade das ist eine Kulturleistung. In der Sozialstatistik wird Armut als das Fehlen dieser emanzipatorischen Kultur­leistung nicht erfasst – damit wird auf einen Armutsbegriff vergessen, den viel arme Leute in Österreich als lebendige soziale Phantasie­pro­duk­tion immerhin noch besitzen.

8
Zurück zur Ausgabe: 
02/08

& Drupal

spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014