Reflexionen zur verletzten Seele von Europa

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Hatto Fischer, der mit dem Netzwerk für Euro­päische Kulturhauptstädte (ECCM) zusammengearbeitet hat, meinte: „Diesem Netzwerk gelang es aber niemals, die kritischen Impulse eines Eric Antonis oder die schwerwiegenden Evaluierungen von Bob Palmer so zu vermitteln, dass sie bei der nächsten Kulturhauptstadt übernommen wurden.“ Er bemerkt Grundsätzliches zum Thema Kultur­haupt­städte, zum ECCM und stellt die Frage: Was tun mit dem Aushänge­schild „Kultur“ oder:

Seit Athen in 1985 mit der „Kulturhauptstadt Europas“ anfing, wird dieses Kon­zept als eines der erfolgreichsten EU-Projekte gepriesen. Bob Palmer und Greg Richards stellten in deren zweiten Bericht zu den Kul­tur­haupt­städten Europas die Fragen, ob diese Staedte es jemals schaffen, eine Nach­haltigkeit zu erzielen, geschweige in diesem einen Jahr die selbst vorgenom­menen hohen Ziele zu verwirklichen. Eine Grundkritik an der Kul­tur­haupt­stadt neuerster Spielart lautet, statt substanzieller Kultur­ar­beit sind eher die „Spin-Doktoren“ am Werk, wenn sie die Stadt darstellen. So wird vornehmlich Image-Pflege betrieben statt die wirkliche Staerke von Kultur als ehrliche Aufrichtigkeit zu foerdern. Doch dazu benoetigt Kultur eine Unab­haengigkeit und keine Einmischung seitens der Politik. Leider ist es aber in den meisten Kulturhauptstaedten gerade umgekehrt.

Zu dieser Kritik passt, was Irlands ehemaliger Kulturminister Michael D. Hig­gins auf dem letzten ECCM-Symposium „Produktivitaet der Kultur“ in Athen, Oktober 2007 sagte. Entgegen der Ausrichtung, Kultur nur zuguns­ten der Wirtschaft als quasi innovative Kraft einzuspannen und darum die Rede von der „Kulturindustrie“, ist seiner Meinung nach die Kultur viel weiter als die Oekonomie zu fassen. Doch das passt gar nicht in den Kram derjenigen, die nur die Kultur, wenn nicht fuer Stadterneuerung, so dann als Vorreiter fuer einen neuartigen Kulturtourismus nutzen wollen. Wie viele Be­sucher in einem Jahr in die Stadt kommen, das zaehlt mehr als gelebte Er­fahrungen, die Kuenstler gemeinsam mit den Menschen in solch einer Kul­turhauptstadt zustande bringen.

Es war die Ursprungsidee von Melina Mercouri, Kulturhauptstaedte als Er­moeglichung von Begegnungen der Menschen zu verstehen. Angebracht sind dann nicht in etwa massenhafte Erscheinungsformen, die eher das Be­stau­nen eines Feuerwerk-Spektakels zulassen, sondern Dialogue als Phantasie-vol­les Herantasten an neue Ideen.

Einen wichtigen Grund mag es geben, warum viele Staedte am Konzept schei­tern. Bart Verschaffel, Philosoph und Koordinator fuer Literatur, als Ant­wer­pen in 1993 unter der Leitung von Eric Antonis Kulturhauptstadt Europas war, meint, sehr viele Staedte begehren dieses Konzept, aber die meisten sind mangels Kapazitaet ueberfordert. Das beinhaltet nicht nur infrastrukturelle Voraussetzungen, wie das so oft missverstanden wird, sondern einen besonderen Umgang mit Kultur, zumal einen, der kritische Fragen und Zwei­fel zulaesst.

In Linz gab es laut Kulturentwicklungsplan solch einen wichtigen Ansatz dazu, insofern Sozial- mit Kulturarbeit einher geht und darum jeder Haus­besuch auch eine Entdeckung eines Kuenstlers sein kann, d.h. statt passiv Sozialhilfeempfaenger zu sein aktiv zu werden indem eine eigene Foto­aus­stellung zustande gebracht wird. Das ist schließlich Kultur im praktischen Sinne: Anerkennung schoepferische Potentiale, um sie auf eine andere Ebe­ne zu bringen.

Die Stadt Cork als Kulturhauptstadt foerderte dies durch die Schaffung je­wei­liger Paare, bestehend aus einem Dichter, schreibend in einer anderen Sprache, und einem Uebersetzer vor Ort. Das geschah im Erkennen, manche Uebersetzungen kommen nur durch eine quasi verrueckte Liebe zu­stan­de – was aber das Verstehen des Anderen foerdert.

Kulturhauptstaedte, die nicht auf solche Details achten, werden ebenfalls ins­gesamt scheitern. Nicht nur, dass die Stelle des Kuenstlerdirektors sich oftmals als Schleudersitz erweist, sobald die Ernennung bekannt wird und die Politik sich einmischt, sondern es wird allgemein der Fehler gemacht, ver­ant­wortlichen Leute zwecks Realisierung des Konzeptes fuer nur dieses eine Jahr einzustellen. Folglich verschwinden sie wieder sobald das Jahr vor­­ueber ist. Ganz anders im Fall von Eric Antonis, der Kuenstlerdirektor von Antwerpen in 1993 war. Bart Verschaffel meint, wer heute noch mit Eric An­tonis spricht, spricht mit der ganzen Stadt. Das ist ein Be­weis von Nach­hal­tigkeit. Eric Antonis hatte es zur Bedingung gemacht: Kei­ne Ein­mi­schung der Politik ins kuenstlerische Konzept. Darum verstand er seit 1993 kulturelle Infrastrukturen und Kapazitaeten aufzubauen. Heute kann die Stadt aus einer Vielfalt an Moeglichkeiten schoepfen und auf Nachfragen nach Kul­tur positiv reagieren. Interessant war außerdem, dass er Kultur als Of­fen­halten des Zweifels verstand, um neue Werke zuzulassen. So entstanden in jenem Jahr 20 neue Opern; 19 davon erlebten ihre Urauffuehrung.

Scheitern ist aber wie der Erfolg relativ, doch was waere Kultur ohne hartnaeckige Fragen? Umgekehrt, woher die Energie nehmen fuer die vielfach gepriesenen Dialogue, denn gewiss ist, sie bleiben aus, wenn keiner kritische Fragen stellt. Dazu gehoert die Einbindung der Menschen vor Ort, und zwar nicht nur zur Zeit der Bewerbung, sondern auch, wenn es sich ums Verwirklichen des kritischen Jahres handelt. Doch wo sind die Reprae­sen­tanten der Zivilgesellschaft und des Kultursektors geblieben, die noch an­fangs in Istanbul oder Pecs dabei waren? Wen wundert es dann noch, wenn Leute nichts mitbekamen, als Patras oder Linz Kulturhauptstaedte waren! Allzu selten drang etwas an die Oeffentlichkeit. Dabei hatte sich Linz geradezu vorbildhaft mit seinem Kulturentwicklungsplan fuer diese Ernennung qualifiziert und sehr, sehr viel versprochen.

Als jemand, der die Aufloesung des ECCM Netzwerkes, also jener Verbund von ehemaligen, gegenwaertigen und neuen Kulturhauptstaedten direkt mit­erlebt hat, kann ich einen weiteren Grund fuers Scheitern im zunehmenden Maße benennen. Spaetestens ab Patras 2006 nahmen die kritischen Stim­men am ECCM Netzwerkes zu, obwohl bis dahin dieses Netzwerk ein we­sent­licher Bestandteil der Kulturhauptstadt war. Zugleich fehlte dem ECCM auf organisatorischer Ebene der Mut, Dinge beim Namen zu nennen. Statt­des­sen verharrten u.a. Koordinator und Ehrenvorsitzender im Schweigen, obwohl allen im Maerz 2006 klar war, was sich in Patras abzeichnete. Pat­ras 2006 war schließlich der Gastgeber – also verhielt man sich als hoefliche Gaeste. Dabei hatte bereits in 2004 Bob Palmer eindringlich die EU-Kom­mission vor dem kommenden Desaster in Patras gewarnt. Es werden aber so gut wie keine Konsequenzen auf der EU Ebene gezogen, ist einmal eine Stadt ernannt. Selbst die Umwandlung von Essen in Ruhr 2010 wurde zwar kritisch notiert, dennoch geschah nichts.

Immer haeufiger wurde die Kritik am ECCM Netzwerk geaeußert, nicht laenger den Beduerfnissen der neu designierten Staedten nachzukommen. Hinzu kam der Druck der vielen neuen Staedte, weil die EU nicht laenger nur eine Stadt pro Jahr ernannte, sondern zwei, wenn nicht gleich drei. Dadurch waren die Aktiven gegenueber den „Alten“ in der Mehrheit. Eine enorme Ungeduld machte sich breit. Sie wollten nicht laenger hoeren, was in Athen 1985 geschah, sondern sie wollten sich aufs entscheidende Jahr vorbereiten. Besonders unter dem Einfluss von Liverpool mit Essen/Ruhr 2010 im Schlepptau machte sich ein falscher, zugleich fataler Eindruck breit, naemlich dass die neuen Staedte nichts von den alten lernen koennten. Sie meinten, voneinander eher zu profitieren, wenn einmal von einem formalen Netzwerk befreit, zumal dieses Mitglieder-Beitraege vorsieht und einen von Spyros Mercouris dominierten Vorstand (Anm.: Spyros Mer­couris war erster Kulturhauptstadt-Intendant, Athen 1985). Folglich taten sich die neuen Staedte in einem informalen Netzwerk zusammen. Es sollten nur die neu designierten, die gegenwaertigen und die Staedte der letzten zwei Jahre dazu gehoren, um zwecks eines ungehinderten Austausches an Erfah­run­gen „zuegig voranzukommen“ (wie es so oft im Management Jargon behauptet wird).

Diese Art Arroganz kommt nicht von ungefaehr, sondern entspricht einem kurzfristigen Denken, alles besser machen zu koennen, wenn nur das Neue gilt. Gleich den Investitionen auf der gruenen Wiese, um so der Erblast des Alten zu entgehen, entstehen immer haeufiger nur kurz- bis mittelfristige Konzepte fuer die Kulturhauptstaedte. Sie erlangen darum kaum eine be­deut­same kulturelle Nachhaltigkeit, noch beteiligen sie sich an einem be­son­deren Wissenstranfer, d.h. wie es um die Kulturen in Europa bestellt ist, beziehungsweise: Was foerdert die kulturelle Entwicklung von Europa? Da­bei ist Europa eine „verwundete Seele“ aus Gruenden eines Uebermass an Kom­merzialisierung. Wie also kulturellen Widerstand dagegen artikulierbar machen, wenn nicht durch Integritaet der Erinnerungen und Besinnung auf gelebte Erfahrungen! Doch von solch einem kulturellen Wissenstransfer ist fast keine Rede. Darum wird auch kein Wert darauf gelegt, herauszuarbeiten welch eine besondere Rolle einer Stadt bei der Designierung zu­kommt und darum bestimmte Aufgaben sich stellen, will die Kohaesion von Europa kulturell bestehen aber auch erneuerbar sein.

Kultur bedarf der Konsistenz ueber Jahre hinweg. Erst dann vermag ein Ab­bau an Willkuer einen kulturellen Umgang mit Dingen und somit die Gram­matik des Lebens bestimmen. Hierzu ist am ehesten die Poesie in der Lage. Insofern Kulturhauptstaedte zu erkennen geben, dass sie die kuenstlerische Ausdrucksfreiheit als Offenhalten fuers Neue durch die Kultur foerdern wol­len und dabei das Alte mit aufnehmen, kann diese Konsistenz in der In­terpretation Europaeischer Kulturen der wichtigste Beitrag zum Verstehen von Europa sein. Dabei kommt jedes Jahr etwas besonderes hinzu. Doch solch eine inhaltliche Verbindung zwischen den verschiedenen Kultur­haupt­staedten und deren Konzepte zu ziehen, dazu hat erst Juergen Mittag mit sei­nem Buch „Geschichte der Kulturhauptstaedte Europas“ einen wichtigen Anfang gesetzt. Dabei gaebe es etliche Gemeinsamkeiten zu entdecken z.B. Weimar mit SALVE als Vermittlung zwischen Goethe/Schiller und Buchen­wald und Linz im Versuch jene Erblast abzuarbeiten insofern Hitler sie als Kulturmetropole entlang der Donau auserkoren hatte. Kultur waere demnach ein Gegenwarts-bezogenes Lernen aus der Vergangenheit, um auf Neues offen zuzugehen.

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02/10
FotoautorInnen: 
Hatto Fischer

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