Aus der Ferne – In Torino

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Turin. Falls jetzt nicht jeder gleich weiß, wo das liegt: Eine Großstadt 100 km westlich von Mailand, Haupt­stadt des Piemont, ca. 1 Million Einwohner, mit der re­gi­­onalen Agglomeration 2 Millionen, eine stark vertretende Industrie von Fiat, Lancia, Lavazza bis Marti­ni.
Und weil es um den Grund der Anwesenheit exakt gar nicht gehen soll, wird der hier nur kurz angerissen: Im Rahmen eines Kunstprojektes eingeladen, haben wir im September dort 12 Tage verbracht, um ein perfor­ma­tives Stück zu erarbeiten, das Aspekte von Stadt­peri­pherie mit einbeziehen sollte – inklusive der, sa­gen wir mal, speziellen Identitätskrisen urbaner Rand­zonen.
Das Zentrum von Turin ist historisch prächtig. Italian lifestyle, Arkadengänge, großzügige Architektur, bes­ter Kaffee, ausgesuchtes Design oder zum Beispiel ungewohnte Anblicke wie: männliche Geschäftsleute, die am Nachmittag miteinander ein Eis essen und dabei lei­den­schaftlich kommunizieren. Was vielleicht ganz in­te­ressant ist, weil eine atmosphärische Stadtgeschichte in großem Bausch und Bogen damit skizziert werden kann, ist das Filmmuseum, das im historischen Bau Mole Antonelliana untergebracht ist: Der Bau stellt we­gen seiner ungewöhnlichen Turm- und Kuppelkons­truk­tion ein Wahrzeichen der Stadt dar. Ende des 19. Jahr­hunderts, zur Vereinigung Italiens, war Turin nämlich mal Hauptstadt und aus Anlass dessen wurden einige Prachtbauten errichtet, unter diesen auch die Mole An­tonielliana, ursprünglich als Synagoge geplant. Der Verlegung der italienischen Hauptstadt von Turin nach Florenz nach bereits vier Jahren, und die Kosten machte dem Plan jedoch ein Ende. Das nun dort installierte Filmmuseum steht, nach der wirtschaftlichen Krise der 1980er, heute für eine wohlbekannte städtische Stra­te­gie von Kultur und Tourismus (obwohl Turin komplett touristenfrei schien) und auch für einen kulturellen Be­zug, der einst auf die Bedeutung der Stadt für den Film hinwies: Turin war mit New York und St. Petersburg eine der Pionierstätten des Films, noch vor Hollywood oder irgend etwas anderem. Darauf angesprochen, ha­ben unsere italienischen Gastgeber lapidar geantwortet, dass viele Dinge in Turin quasi erfunden, aber an­ders­wo groß geworden sind, das sei geradezu typisch für die Stadt. Minderwertigkeitskomplex klingt aber trotz­dem irgendwie anders.
Was sich auf der Aussichtsplattform (mithilfe eines frei schwebenden Aufzugs innerhalb der Kuppel genommen) auch gezeigt hat, ist eine Geometrie der Stadt, die vom historischen Zentrum bis in die Peripherie, also in un­ser direktes Arbeitsgebiet weitergeführt wurde. Turin wirkt insgesamt sehr sauber und bestens gepflegt, und innerhalb der Geometrie der Wohnblocks am Stadt­rand werden nur nach und nach die Zellen sichtbar, die als unhübsch gelten, wie etwa Prostitution, psychische Pro­blemlagen, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit. Und im Zu­ge einer künstlerischen Intervention als häufigstes „Feh­len von etwas“ genannt: I Soldi – das Gehalt. Oder eine weniger profane Problemnennung und in Deutsch über­setzt: „Die Austrocknung der Seele“. Die italienische Kommunikation hat sich für uns als sehr gelassen, höf­lich und primär mal amüsiert über Kontakt gezeigt – und wenn es uninteressant wird, dreht man sich halt weg und redet anderswo weiter. Ein wohlwollendes „Aus­tria, ah, Austria“ und ein wogendes „Hübsch, hübsch, sie sind hübsch …“ begleitete auch hin und wie­der unsere Spaziergänge durch das Areal – ein Auto­matismus, den es auch wirklich gibt, und wenn das die 12jährigen den Mitte Dreißigerinnen nachgurren. So­weit das italienische Klischee.
Am fahrenden Getränke-Kiosk, den wir nächtens öfter aufgesucht haben, hat uns ein Ägypto-Italiener ins Herz geschlossen und uns mit Intimitäten versorgt wie: Das italienische Essen sei zwar eines der besten der Welt, aber er möge die Italiener nicht, weil die nur ans Fres­sen denken und an sonst gar nichts interessiert sind. Zuhause im Atelier haben sie uns dann gesagt, dass das dann so doch nicht stimmt, weil die Italiener doch auch am Fußball sehr interessiert sind. Und abgesehen vom Heimatverein Juventus wird dort wirklich auch von den Normalos leidenschaftlich gespielt – zum Bei­spiel am Platz in unserer Nachbarschaft täglich bis in die Nacht … Und die Stadt ist ebenso durchzogen von Sportplätzen wie Märkten, wo neben den Erträgen der italienischen Agrikultur auch eine beachtliche Anzahl von chinesischen Billig-Kleiderfetzerl und Schuhen an­geboten wird. Und damit sind wir beim Thema Im­mi­gration, das natürlich in Italien auch nicht weniger ro­sig sich gestaltet als anderswo. Turin hat mit Mailand und Rom die meisten Einwanderer Italiens, ist jedoch billiger und ohnehin eine traditionelle Arbeiter- und Einwandererstadt für Menschen aus dem Süden – zu­erst aus dem Süden Italiens, dann aus dem Süden der Welt. Wir haben z. B. eine autonome Solidaritätsdemo für afrikanische Flüchtlinge genauso beobachtet, wie feindliches Unbehagen der Italien-Turineser in den öf­fentlichen Verkehrsmitteln vor den dunkelhäutigen Mit­bürgerInnen. Einer unserer Gastgeber kommentiert das so: Die konsumatorische Oberfläche des heutigen Ita­li­en ist „Fascismo“ – und die Fremdenfeindlichkeit ver­ste­he er, wenn er sich das italienische Fernsehen ansehe. Alles in allem sei es aber ein komplettes Paradox, wenn man die Abhängigkeit der Italiener von ausländischen Arbeitskräften von den lower jobs bis hin zur Altenpflege ansieht, die komplett von den „Romanian people“ geleistet werde. Berlusconi und Bossi erscheinen für uns innerhalb des Italian Way of Life genauso verwirrend logisch, wie das pulsierende Leben innerhalb der sauberen Gepflegtheit der Stadt und ihrer ar­chitektonisch-exakten Verwinkelung.
Das momentan Absurde aber wunderschön Relati­vie­ren­de an einer Reise ist manchmal, dass dort, wo man hinreist, unter Umständen von den Dingen, die zuhause oft so wichtig scheinen, überhaupt nichts bekannt ist – denn wenn wir bei unseren italienischen Künstler­kol­legInnen so „well informed“ gelten, was italienische Politik anbelangt (Anm.: eine leichte Übertreibung), wis­sen sie im Gegenzug nämlich exakt gar nichts über Ös­ter­reich. Was entweder tatsächlich an den gleichge­schal­teten Infotainment-Medien Italiens liegt oder daran, dass Österreich für die Italiener generell eher uninteressant oberhalb der Alpen dahinexistiert. Obwohl wir in Öster­reich auch so Gustostückerl parat hätten, quasi fast schon auf Berlusconi-Niveau, wie den Haider-Petzi oder jetzt die Hypo-Alpe-Adria samt TV-tauglicher Promi-Aus­stattung als Hauptverdächtige. Auf kultureller Ebene hat man weder vom Kulturhauptstadtjahr in Linz was mitbekommen, geschweige denn von irgendwas anderem, was mit Linz zusammen hängt. Das barockeste Re­alo-Wurstltheater des Sommers, die nachträgliche Ver­leihung der Ehrenverdienstkreuze des österreichischen Bundesministeriums für Kunst und Kultur an die In­ten­danten der Linzer Kulturhauptstadt (das stimmt jetzt wirklich – falls das jemand für einen Schmäh hält) wird mit diesem zeitlich-räumlich distanzierten Blick nun völ­lig zur abgefahrenen Groteske. Aber unseren Keller-Fritzl haben unsere italienischen Kollegen im­mer­hin ge­kannt und sogar mal theatralisch adaptiert. Wir ha­ben mitgenommen: Kultur und die Schwie­rig­keiten von Kunst­produktion sind in Turin ähnlich schwierig. Aber der vielleicht wichtigste Satz für Kunst­schaffende in diesem Zusammenhang: Es lebe eine Wirklichkeit, die durch nichts übertroffen werden kann.

PS: Wiltrud Hackl, die diese Kolumne üblicherweise schreibt, wird im November wieder an dieser Stelle vertreten sein!

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