Grossmaul, Sturschädel, Kommunist
Wer ist hier die angeschlagenere Existenz: Herr Groll, der Rollstuhlfahrer (liebevoll nennt er sein Gefährt „Joseph III.“), der sich als einer der letzten aufrechten Kommunisten irgendwie durchs Leben schlägt und sich mit seiner juristisch fragwürdigen „Firma“ ISTROS („Staatlich beeidete Lebens- und Vermögensberatung“) finanziell über Wasser hält? Oder doch sein herzkranker Freund Horst, der mit nicht minder krummen Geschäften durch den Alltag taumelt? Groll jedenfalls macht sich ernsthaft Sorgen um Horst, dem er, nachdem dieser offensichtlich in eine Schlägerei geraten ist, drei Lebensregeln nahelegt. Die zweite lautet: „Alkoholentzug“. Das bedeutet in der Welt von Groll und Horst: nicht mehr als einen Doppler Wein täglich.
Lieb gewinnt der Leser diesen eigensinnigen, kauzigen, gegen die Ungerechtigkeit der Welt erbittert ankämpfenden (und -redenden) Überlebenskünstler Groll rasch. Erwin Riess lässt seinen Antihelden diesmal in der Lieblingsgegend des Autors in einem Kriminalfall ermitteln: an der Donau. Dort, wo Groll zu Beginn des Romans „Herr Groll und der rote Strom“ in der Hütte Horsts auf einen schönen Sommer hofft, wo es „noch eine Welt jenseits aller heimischen Spinner, Krisengewinnler und Möchtegern-Nazis gibt“. Aber wo Groll hinkommt, verzieht sich die Idylle schnell. Bald wird am Donauufer unterhalb von Wien die Leiche einer jungen Frau angespült. Freilich, ehe sich Groll ans Ermitteln macht, wird noch ausführlich monologisiert. Über die innenpolitischen Optionen in Österreich etwa. Mit beißender Ironie preist da Groll die Österreichische Volkspartei, die den zentralen Wert einer Klassengesellschaft einzementiere: „Nur eine Welt mit stabilen Klassenschranken ist berechenbar.“ Böses Lob hat Groll auch für die Sozialdemokratie parat, „die der Volkspartei dabei nicht ins Geschäft pfuschte und die zweigeteilte Welt der Armen und Reichen nicht einmal in Gedanken antastete“. Ja, sogar der Weltwirtschaftskrise, vor deren Hintergrund sich das turbulente Geschehen abspielt, kann Groll „Positives“ abgewinnen. Profitiert doch auch Anita, die Wirtin seines Vertrauens und Begehrens, davon: „In Krisenzeiten fliegen die Leute nicht nach Bangkok, wenn sie vögeln wollen, dann tut es auch eine Kellnerin beim Heurigen um die Ecke.“
Erwin Riess, 1957 in Wien geboren, seit 1983 Rollstuhlfahrer, 1984 bis 1994 im Wirtschaftsministerium tätig (Wohnbauforschung/Barrierefreies Bauen), seither als freier Schriftsteller tätig, sollte vielen neugierigen Linzer LeserInnen bekannt sein. Regelmäßig kommentiert Riess in seinen Groll-Kolumnen in der „Versorgerin“, der Zeitung der Kulturstätte Stadtwerkstatt, politisch-gesellschaftliche Vorkommnisse. Und endlich erfahren Groll-Fans in „Der rote Strom“ auch, wie Groll seinen rührigen Assistenten, den „Dozenten“, kennengelernt hat. Es geschah naturgemäß an der Donau. Groll fuhr mit seinem nur noch marod zu nennenden Auto, der Dozent radelte ihm entgegen und rettete sich mit einem halsbrecherischen Manöver, durch das er in die Donau plumpste. Groll „rettet“ ihn vor dem Ertrinken. Später hält der Dozent in seinen vergnüglich zu lesenden Notizen fest: Groll ausreden zu wollen sich als „Lebensretter“ aufzuplustern, wo dieser doch selbst den Unfall verursacht habe, sei bei diesem Sturschädel sinn- und hoffnungslos. Die subtile Revanche des ewigen Studenten der Soziologie folgt sobald: „Der seltsame Lebens- und Vermögensberater Groll aus Floridsdorf ist von nun an mein Studienobjekt.“
Frauenleiche am Donauufer, ausschweifende Herrenabende beim Nachbarn Horsts: Groll hat die Mörder rasch, zur Hälfte des Romans, ausgeforscht (was nicht allzu schwierig war, wo doch Horst alles gewusst hat). Schuld war natürlich wieder einmal die herrschende Klasse. Was tut ein gewiefter Weltrevolutionär wie Groll in einer solchen Situation? Er will sein Wissen in Bares ummünzen, mittels krimineller Machenschaften – macht kaputt, was euch kaputt macht! Und damit beginnt das Chaos erst so richtig, was Erwin Riess weiterhin stilvoll und höchst unterhaltsam ausbreitet. Dass inmitten all des Trubels Groll noch genug Zeit findet, seine Variante Marx’schen Philosophierens vor seinen gebannt lauschenden Zuhörern zu erörtern, versteht sich fast von selbst. Alles mündet in ein infernalisches Hochwasser, durch das sich die Donau rot verfärbt (warum, sei hier nicht verraten). Am Ende triumphiert das Gute, also Groll und seine Freunde. Am Ende steht Groll wieder mit leeren Händen da. Warum, das lohnt sich unbedingt nachzulesen.
Diese Literaturrezension ist auch nachzulesen im online-Rezensionsteil des Stifterhauses www.stifter-haus.at
Warum wählten Sie in „Der rote Strom“ wieder die Ich-Form als Erzählmodus?
Groll tritt in allen Romanen als Ich-Figur auf, dies ist der dritte Groll-Roman. Die ersten beiden spielen in Ungarn („Giordanos Auftrag“, Snuff-Pornos mit behinderten Menschen) und Italien „Der letzte Wunsch des Don Pasquale“. Ich glaube, daß man heutzutage nicht mehr als allwissender Erzähler agieren darf, die Wirklichkeit wird subjektiv gebrochen erlebt, also kann man nur subjektiv über sie schreiben. Wer sich eines allwissenden Erzählers bedient, lügt von Wort zu Wort. Außerdem ist Herr Groll ja ein recht eigenartiger Charakter, dem kann man in seiner radikalen Subjektivität schon zuhören.
Einen wesentlichen Hintergrund des Romans bildet die gegenwärtige Kapitalismuskrise. Verursacht durch persönliche Gier oder ein Systemfehler?
Weder noch. Das Profitsystem kann nur so existieren: mit Gier, Betrug und Finanzblasen. Aus diesem Grund wird ja auch nichts daran geändert – trotz großer Versprechen der Politik. Die nächste Blase kommt bald. Gier und platzende Blasen sind kein Systemfehler, sondern ökonomischer Alltag.
Die Frage ist zu verlockend: In welcher Beziehung stehen Sie zu Ihrer Hauptfigur Groll?
Die unwahrscheinlichsten Geschichten sind selbst erlebt, manche Alltagsbegebenheiten sind Fiktion. Groll ist die Zuspitzung meiner Person, und das nicht nur im Positiven.
Gibt es ein reales Vorbild für den „Dozenten“, Grolls treuen Assistenten?
Es gibt zwei Vorbilder. Da ich auf Intervention von Herrn Groll die Namen der beiden Herren nicht bekanntgeben darf, müssen Sie weiterrätseln. Bei Überweisung einer höheren Summe läßt Herr Groll aber mit sich reden.
Warum macht sich Groll das Leben nicht leichter und passt sich an?
Herr Groll würde sagen, Anpassung an menschenfeindliche Verhältnisse ist zu anstrengend. Man verbiegt sich dabei das Rückgrat. Und das ist bei Querschnittgelähmten doppelt schlimm. Gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung aufzutreten ist aufregend – und lustvoll. Man erlebt mehr, und man erlebt, wie man sich in der Auseinandersetzung selbst verändert. Lustig ist diese Existenzform allerdings nur für die wenigen Menschen mit Witz.
Groll zieht die (süd-)osteuropäische Gegend an. Wär auch einmal eine westeuropäische Metropole wie Paris als Handlungsort denkbar?
Paris kennt jeder Maturareisende. Ich hab’s als 15-jähriger als Tramper per Interrail kennengelernt, das war 1972. Osteuropa kennt kaum wer, diesbezüglich sind die Nachkommen der Donaumonarchie ganz schön borniert. Außerdem bin ich der Donau verfallen, die führt eben in den Osten. Was sich aber in den östlichen Donauländern ökonomisch und politisch abspielt, ist ein europäischer Skandal, zu dem Europa schweigt. Heuer werde ich das erste Mal seit 35 Jahren nicht nach Ungarn/Visegrád fahren. Ich mag paramilitärische Garden nicht. In Ungarn ist der Faschismus mittlerweile bestimmende Ideologie geworden – in der einst bürgerlichen Mitte, bei den Aufsteigern und Krisenverlierern und, das ist das Bedrohliche, in der jungen Generation Jugend. Die Ungarn proben den Hechtsprung in finstere Zeiten. Österreich hinkt da nach. Aber es holt auf. Insofern könnte es sein, daß ich im Herbst vielleicht doch wieder in Tokaj Fischsuppe esse.
Erwin Riess: „Herr Groll und der rote Strom. Roman“. Otto Müller Verlag, Salzburg/Wien 2010, 278 Seiten.
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