Einer von Fünfzehn
Vollbeschäftigung im Wirtschaftswunderland Oberösterreich, das war einmal. Seit der Krise haben sich die Verhältnisse geändert. Im Jänner 2010 verzeichnet das Bundesland den höchsten Arbeitslosenzuwachs in ganz Österreich. Gespräche über strukturelle Fehler und mögliche Antworten aus der Praxis der Arbeitsvermittlung.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass die oberösterreichische Regierungspartei mit dem Slogan „Lehrlingsland Nummer 1“ für ihre Politik geworben hatte. 2008 war man noch stolz auf die 21 Prozent aller österreichischen Lehrlinge, die zwischen Salzkammergut und Mühlviertel ausgebildet werden. Durch die hohen Fördergelder für Betriebe mit Lehrstellen und die umsichtige Imagepflege des „Wirtschaftswunderlandes“ Oberösterreich konnten sowohl die Betriebe als auch überdurchschnittlich viele junge Pflichtschulabgänger zum Beginn eines Arbeitsverhältnisses im „dualen System“ überzeugt werden. Duales System – das bedeutet die Ausbildung über eine praktische Lehrstelle in einem Betrieb und die passende Berufsschule. Der schnelle Umstieg von der Pflichtschule ins duale System galt auf lange Sicht als unkompliziert, rentabel und sicher. Damals. 2008. Vor der Krise.
Die Hauptverlierer der Krise
„Oberösterreichs Arbeitsmarkt hat von der Hochkonjunktur sehr profitiert“, sagt Mag. Rudolf Moser von der Arbeiterkammer Oberösterreich, „jetzt erleben wir die Kehrseite der Medaille.“ Während in Oberösterreich in den letzten zehn Jahren mit gewissen Schwankungen bis 2008 die Vollbeschäftigung erreicht wurde – zumindest nach der offiziell üblichen Definition von Vollbeschäftigung – und Oberösterreich im nationalen Vergleich der Arbeitslosenquoten sehr günstig lag, verzeichnet das Bundesland nun Anfang 2010 den verhältnismäßig höchsten Anstieg der Arbeitslosenquote verglichen mit dem Vorjahr, nämlich 18,5 Prozent. Absolut gesehen liegt Oberösterreich damit noch immer unter dem österreichischen Durchschnitt, doch die Tendenz nach oben ist deutlich erkennbar.
Die internationale Wirtschaftskrise hat Oberösterreich schwer getroffen. Die Region ist durch ihre starke Sachgüter- und Exportorientierung, das große Engagement im Auto- und Maschinenbau und den relativ schwachen Dienstleistungssektor sehr abhängig von internationalen Bewegungen. Wie ein Erdbeben erschüttert die Krise den Arbeitsmarkt in Schüben. Die ersten Kündigungswellen in Oberösterreich trafen die Leasingarbeiter. Doch bald folgten dreistellige „Personalfreisetzungen“ in mehreren oberösterreichischen Firmen. Die Krise trifft erstmals in größeren Zahlen auch höher qualifiziertes Fachpersonal. Sogar auf der Managerebene werden die Reihen gelichtet. Aber „die Hauptverlierer der Krise sind an- und ungelernte Arbeitskräfte“, so Mag. Moser. Und: „Das Problem ist, selbst wenn bald wieder ein zartes Konjunkturpflänzchen wächst, wird es viele Jobs in der Form nicht mehr geben. Die Krise wird für viele Anlass sein, die Produktion zu verlegen und in China oder Kasachstan zu produzieren.“
Arbeitsmarktpolitik beginnt bei der Bildungspolitik
Das Verschwinden mancher Arbeitsfelder für un- und angelernte Arbeitskräfte als Folge der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes ist grundsätzlich ein weltweiter Trend. „Even in a Recovery, Some Jobs Won’t Return“ titelte das Wallstreet Journal Mitte Jänner 2010 mit Blick auf die geplatzte Immobilienblase, die viele amerikanische Arbeiter in Beschäftigung gehalten hatte und nun in eine absehbar dauerhafte Arbeitslosigkeit entlässt. Auch in Oberösterreich ist das Problem nicht nur wirtschaftsstrukturell – sondern wurzelt tief in dem von der Wirtschaft stark beeinflussten Ausbildungssystem.
Im „Lehrlingsland Nummer 1“ wird seit vielen Jahren strukturell in das Defizit an höherer Bildung hineingearbeitet. „Der Anteil an höher ausgebildeten Arbeitnehmern ist im Vergleich zu anderen Regionen weit unterdurchschnittlich, wir haben starken Aufholbedarf“, meint Mag. Hofer von der Arbeiterkammer, „daher muss man grundsätzlich auf der bildungspolitischen Ebene ansetzen. Es gibt eine große Politwirtschaftsmaschine, die bisher dafür sorgte, dass Betriebe und das Traditionelle Berufsausbildungskonzept im dualen System mit unverhältnismäßig hohen öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Dass trotzdem viel zu wenige qualitativ hochwertige betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen wurden, wird von den Protagonisten dieser konservativen Bildungspolitik beharrlich ignoriert.“
Grundsätzlich ist an der „Karriere mit Lehre“ ja nichts auszusetzen. „Aber viele straucheln, kommen nicht zum Lehrabschluss. Es gibt Lehrberufe mit 30 Prozent Ausfallquote“, so Mag. Moser. Zugleich bieten die Betriebe, trotz der satten Landes- und Bundesförderungen, oft nur „halbe Ausbildungen“ mit „engen Konzepten“ an. Die Ausbildungen sind ganz speziell nach dem jeweiligen Betrieb bemessen, bei Verlust des Arbeitsplatzes fällt die Jobsuche schwer, weil keine umfassende Berufsqualifikation vermittelt wurde. „Das gleicht einer großen Personalrecruiting-Aktion der privaten Wirtschaft mit öffentlichen Mitteln. Die Politik achtet darauf, dass die Wirtschaft die geschicktesten Lehrlinge bekommt, die durchaus das Zeug zu einer höheren Ausbildung hätten, und die weniger begabten Jugendlichen bleiben von Anfang an auf der Strecke.“
Möglichkeiten zur Neu-Orientierung und Weiterbildung
„Eine verlorene Generation“ und „gesellschaftlicher Sprengstoff“, nennt Mag. Silvia Kunz, die Geschäftsführerin des FAB, die jugendlichen Pflichtschulabgänger, „die mehrere Jahre erfolglos den Einstieg in einen Lehrberuf versuchen und denen die Gesellschaft nichts mehr anzubieten hat. Die Jugendlichen kommen aus einem defizitorientierten, nicht praxisorientierten Schulsystem, das Verlierer produziert“, und sie erinnert an die Pariser Banlieues und die Griechenland-Erfahrungen. Jugendliche gehören neben älteren Arbeitslosen zu den zwei signifikant problematischen Klientengruppen, die der FAB betreut. Der FAB ist ein gemeinnütziger Verein, der rein öffentlich finanziert wird und über Arbeitsstiftungen, Ausbildungen und befristete Arbeitsverhältnisse arbeitsuchenden Menschen hilft, den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu finden. Darüber hinaus sind 550 Menschen mit Behinderung in geschützten Werkstätten dauerbeschäftigt. Der FAB ist insofern ein ausgelagertes Kompetenzzentrum des Arbeitsmarktservice und wird bei besonderen Herausforderungen, wie auch der aktuellen Kündigungswelle, auf den Plan gerufen.
Im Rahmen der Programme des FAB kann das stattfinden, was in der üblichen Arbeitslosenpraxis kaum möglich ist. Das ist vor allem: Intensive Betreuung. Von Jugendlichen, von Menschen mit Behinderungen, von älteren Arbeitssuchenden, von Langzeitarbeitslosen, von großen Gruppen von Gekündigten, wie jetzt die Gruppe der ehemaligen Quelle-Mitarbeiter nach der Insolvenz. Das AMS selbst hat für diese langfristig intensive, fallbezogene und individuelle Betreuung keine Personalressourcen. „Ein AMS-Beratungsgespräch dauert statistisch gesehen 7 bis 11 Minuten. Da ist es vorteilhaft, wenn man einen einsilbigen Namen hat“, sagt Mag. Hofer. Jetzt nach Ausbruch der Krise hat das AMS zwar österreichweit über 100 Planstellen dazubekommen, „aber das ist ungefähr ein Fünftel der benötigten Stellen“, erklärt Mag. Moser. Und nicht nur der Arbeitssuchende, auch der Arbeitsvermittler des AMS, muss den Zwängen wirtschaftlicher Logik folgen und ist um individuellen Erfolg bemüht.
„Early Intervention“ lautet eine erfolgreiche Maxime des AMS, geprägt von AMS-Landesgeschäftsführer Dr. Roman Obrovski: Frühe Situationsbestimmung und zielgenaue Vermittlung. Aber angesichts der strengen Zumutbarkeitsbestimmungen können Arbeitslose nicht wählerisch sein. Und aus der Intervention wird „sanfter Zwang“. Weniger attraktive Angebote kommen auf den Tisch, die angenommen werden müssen. „Auch wenn jemand zum Beispiel aus dem Gastgewerbe aussteigen will, sich gut informiert hat und eine genaue Vorstellung von einer Fortbildung in ein neues attraktives Berufsfeld hat, kann es trotzdem sein, dass er eine freigewordene Gastgewerbestelle besetzen muss,“ sagt Mag. Hofer, „so werden für die ArbeitnehmerInnen unattraktive Arbeitsbedingungen perpetuiert und verfestigt und der Berufswechsel von ArbeitnehmerInnen erschwert.“
Ausgehend von der Situation, dass fast die Hälfte aller Arbeitsuchenden ungelernte Arbeitskräfte sind, zugleich der Arbeitsmarkt sich umstrukturiert und andere Kompetenzen verlangt werden, rückt Bildung und Weiterbildung stärker als je zuvor ins Zentrum der Arbeitsvermittlungspraxis. Ein wichtiger Teil davon ist persönliche Bildung, Beziehungsarbeit, Coaching. „Bei unseren Jugendlichen geht es zuerst einmal darum, sie dazu zu befähigen, für sich selbst wieder Handlungsoptionen zu sehen. Das passiert über Beziehungen“, erklärt Mag. Kunz. Das gilt auch bei erwachsenen Arbeitssuchenden in Seminaren und den notorischen Bewerbungstrainings: „Arbeitslosigkeit ist eine existentiell sehr bedrohliche Situation. Es gibt tatsächlich diese Fälle, in denen Menschen zuhause nicht erzählen, dass sie gekündigt wurden. So extrem wird die Existenzbedrohung empfunden. Andererseits ist das Selbstverständnis vieler Arbeitsnehmer nach der Kündigung erschüttert. Wir erleben das gerade bei den ehemaligen Quelle-Mitarbeitern, die sich sehr mit der Firma identifiziert haben. Nach der Kündigung folgte jetzt ein mit Trauer, Wut und Unverständnis belegter Prozess. Dazu kommt, dass Menschen, die Jahrzehnte an einem Posten beschäftigt waren, oft keine Ahnung haben, wie der Arbeitsmarkt funktioniert und welche Möglichkeiten ihnen offen stehen. Bis jemand zu dem Punkt gelangt, darüber nachzudenken, was er machen will, und die Situation auch als Chance begreifen kann, ist es meist ein langer Prozess. Aber das ist die Kunst, die Chance zu sehen und zu neuer Energie zu finden.“
Ab 04. März wird im Theater Phönix das Outplacement-Kammerspiel „Top Dogs“ von Urs Widmer aufgeführt. Es zeigt arbeitslos gewordene Alphatiere aus dem oberen Management in einem Neuorientierungsseminar – und spielt mit der Fallhöhe von Königsdramen. Im Grunde geht es aber um Menschen, die sich sicher und gebraucht fühlten und nun die Abhängigkeit von einem sich schnell ändernden Marktsystem zu spüren bekommen.
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