Einer von Fünfzehn

Im Theater Phönix wird ab 04. März das Outplacement-Kammerspiel „Top Dogs“ von Urs Widmer aufgeführt. Es zeigt arbeitslos gewordene Alphatiere aus dem oberen Management in einem Neu­orientierungsseminar – und spielt mit der Fallhöhe von Königsdramen. Im Grunde geht es aber um Menschen, die sich einst sicher und gebraucht fühlten und nun die Abhängigkeit von einem sich schnell ändernden Marktsystem zu spüren bekommen. Dazu schreibt Julia Engelmayer.

Vollbeschäftigung im Wirtschaftswunderland Oberösterreich, das war einmal. Seit der Krise haben sich die Verhältnisse geändert. Im Jänner 2010 verzeichnet das Bundesland den höchsten Arbeitslosenzuwachs in ganz Österreich. Gespräche über strukturelle Fehler und mögliche Antworten aus der Praxis der Arbeitsvermittlung.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass die oberösterreichische Regierungs­par­tei mit dem Slogan „Lehrlingsland Nummer 1“ für ihre Politik geworben hatte. 2008 war man noch stolz auf die 21 Prozent aller österreichischen Lehr­linge, die zwischen Salzkammergut und Mühlviertel ausgebildet werden. Durch die hohen Fördergelder für Betriebe mit Lehrstellen und die um­sichtige Imagepflege des „Wirtschaftswunderlandes“ Oberösterreich konnten sowohl die Betriebe als auch überdurchschnittlich viele junge Pflicht­schul­abgänger zum Beginn eines Arbeitsverhältnisses im „dualen System“ überzeugt werden. Duales System – das bedeutet die Ausbildung über eine praktische Lehrstelle in einem Betrieb und die passende Berufsschule. Der schnelle Umstieg von der Pflichtschule ins duale System galt auf lange Sicht als unkompliziert, rentabel und sicher. Damals. 2008. Vor der Krise.

Die Hauptverlierer der Krise
„Oberösterreichs Arbeitsmarkt hat von der Hochkonjunktur sehr profitiert“, sagt Mag. Rudolf Moser von der Arbeiterkammer Oberösterreich, „jetzt erleben wir die Kehrseite der Medaille.“ Während in Oberösterreich in den letzten zehn Jahren mit gewissen Schwankungen bis 2008 die Vollbe­schäfti­gung erreicht wurde – zumindest nach der offiziell üblichen Definition von Voll­be­schäftigung – und Oberösterreich im nationalen Vergleich der Ar­beits­­­lo­sen­quoten sehr günstig lag, verzeichnet das Bundesland nun Anfang 2010 den verhältnismäßig höchsten Anstieg der Arbeitslosenquote vergli­chen mit dem Vorjahr, nämlich 18,5 Prozent. Absolut gesehen liegt Oberösterreich da­mit noch immer unter dem österreichischen Durchschnitt, doch die Ten­denz nach oben ist deutlich erkennbar.
Die internationale Wirtschaftskrise hat Oberösterreich schwer getroffen. Die Region ist durch ihre starke Sachgüter- und Exportorientierung, das große Engagement im Auto- und Maschinenbau und den relativ schwachen Dienst­leis­tungs­sektor sehr abhängig von internationalen Bewegungen. Wie ein Erd­be­ben erschüttert die Krise den Arbeitsmarkt in Schüben. Die ersten Kün­­di­gungs­wel­len in Oberösterreich trafen die Leasingarbeiter. Doch bald fol­gten dreistellige „Personalfreisetzungen“ in mehreren oberösterreichischen Firmen. Die Krise trifft erstmals in größeren Zahlen auch höher qualifiziertes Fach­per­sonal. So­gar auf der Managerebene werden die Reihen gelichtet. Aber „die Haupt­verlierer der Krise sind an- und ungelernte Arbeitskräfte“, so Mag. Moser. Und: „Das Problem ist, selbst wenn bald wieder ein zartes Kon­­junk­tur­pflänz­chen wächst, wird es viele Jobs in der Form nicht mehr ge­ben. Die Krise wird für viele Anlass sein, die Produktion zu verlegen und in China oder Kasach­stan zu produzieren.“

Arbeitsmarktpolitik beginnt bei der Bildungspolitik
Das Verschwinden mancher Arbeitsfelder für un- und angelernte Arbeits­kräf­te als Folge der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes ist grundsätzlich ein weltweiter Trend. „Even in a Recovery, Some Jobs Won’t Return“ titelte das Wallstreet Journal Mitte Jänner 2010 mit Blick auf die geplatzte Im­mobi­lien­blase, die viele amerikanische Arbeiter in Beschäftigung gehalten hatte und nun in eine absehbar dauerhafte Arbeitslosigkeit entlässt. Auch in Ober­ös­ter­reich ist das Problem nicht nur wirtschaftsstrukturell – sondern wurzelt tief in dem von der Wirtschaft stark beeinflussten Aus­bil­dungs­system.
Im „Lehrlingsland Nummer 1“ wird seit vielen Jahren strukturell in das De­fi­zit an höherer Bildung hineingearbeitet. „Der Anteil an höher ausgebildeten Arbeitnehmern ist im Vergleich zu anderen Regionen weit unterdurchschnittlich, wir haben starken Aufholbedarf“, meint Mag. Hofer von der Ar­beiterkammer, „daher muss man grundsätzlich auf der bildungspolitischen Ebene ansetzen. Es gibt eine große Politwirtschafts­ma­schine, die bisher da­für sorgte, dass Betriebe und das Traditionelle Berufsausbildungskonzept im dualen System mit unverhältnismäßig hohen öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Dass trotzdem viel zu wenige qualitativ hochwertige betriebliche Aus­bildungsplätze geschaffen wurden, wird von den Protagonisten dieser kon­ser­vativen Bildungspolitik beharrlich ignoriert.“
Grundsätzlich ist an der „Karriere mit Lehre“ ja nichts auszusetzen. „Aber vie­le straucheln, kommen nicht zum Lehrabschluss. Es gibt Lehrberufe mit 30 Pro­­­zent Ausfallquote“, so Mag. Moser. Zugleich bieten die Betriebe, trotz der satten Landes- und Bundesförderungen, oft nur „halbe Ausbildungen“ mit „en­­­gen Konzepten“ an. Die Ausbildungen sind ganz speziell nach dem jeweiligen Be­trieb bemessen, bei Verlust des Arbeitsplatzes fällt die Jobsuche schwer, weil kei­ne umfassende Berufsqualifikation vermittelt wurde. „Das gleicht ei­ner gro­­­ßen Personalrecruiting-Aktion der privaten Wirtschaft mit öf­fent­li­chen Mit­teln. Die Politik achtet darauf, dass die Wirtschaft die geschicktesten Lehr­linge be­kommt, die durchaus das Zeug zu einer höheren Aus­bil­dung hätten, und die weniger begabten Jugendlichen bleiben von Anfang an auf der Strec­ke.“

Möglichkeiten zur Neu-Orientierung und Weiterbildung
„Eine verlorene Generation“ und „gesellschaftlicher Sprengstoff“, nennt Mag. Silvia Kunz, die Geschäftsführerin des FAB, die jugendlichen Pflicht­schul­ab­­gänger, „die mehrere Jahre erfolglos den Einstieg in einen Lehrberuf versuchen und denen die Gesellschaft nichts mehr anzubieten hat. Die Jugend­li­chen kommen aus einem defizitorientierten, nicht praxisorientierten Schul­sys­tem, das Verlierer produziert“, und sie erinnert an die Pariser Banlieues und die Griechenland-Erfahrungen. Jugendliche gehören neben älteren Ar­beits­losen zu den zwei signifikant problematischen Klientengruppen, die der FAB betreut. Der FAB ist ein gemeinnütziger Verein, der rein öf­fent­­lich finanziert wird und über Arbeits­stif­tun­gen, Ausbildungen und befristete Ar­beits­ver­hält­nis­se arbeitsuchenden Menschen hilft, den Wie­dereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu finden. Darüber hinaus sind 550 Menschen mit Behin­de­rung in geschützten Werkstätten dauerbeschäftigt. Der FAB ist insofern ein ausgelagertes Kom­pe­tenzzentrum des Arbeitsmarktservice und wird bei besonderen Herausforderungen, wie auch der aktuellen Kündigungs­wel­le, auf den Plan gerufen.

Im Rahmen der Programme des FAB kann das statt­finden, was in der üb­li­chen Arbeits­losen­pra­xis kaum möglich ist. Das ist vor allem: Intensive Be­treuung. Von Jugendlichen, von Menschen mit Behinderungen, von älteren Ar­beitssuchenden, von Langzeitarbeitslosen, von großen Gruppen von Ge­­kün­digten, wie jetzt die Gruppe der ehemaligen Quelle-Mitarbeiter nach der In­solvenz. Das AMS selbst hat für diese langfristig intensive, fallbezogene und individuelle Betreuung keine Personal­res­sourcen. „Ein AMS-Beratungs­ge­spräch dauert sta­tistisch gesehen 7 bis 11 Minuten. Da ist es vorteilhaft, wenn man einen einsil­bi­gen Namen hat“, sagt Mag. Hofer. Jetzt nach Ausbruch der Krise hat das AMS zwar österreichweit über 100 Plan­stellen dazubekommen, „aber das ist ungefähr ein Fünftel der benötigten Stellen“, erklärt Mag. Mo­ser. Und nicht nur der Ar­beitssuchende, auch der Arbeitsvermittler des AMS, muss den Zwängen wirtschaftlicher Logik folgen und ist um indi­vi­du­­ellen Erfolg bemüht.
„Early Intervention“ lautet eine erfolgreiche Ma­xi­me des AMS, geprägt von AMS-Landes­ge­schäfts­führer Dr. Roman Obrovski: Frühe Situa­tions­be­stim­­mung und zielgenaue Vermittlung. Aber an­ge­sichts der strengen Zumutbarkeits­be­stim­­mun­­gen können Arbeitslose nicht wählerisch sein. Und aus der Inter­ven­tion wird „sanfter Zwang“. Weni­ger at­trak­tive Angebote kommen auf den Tisch, die angenommen werden müssen. „Auch wenn je­mand zum Beispiel aus dem Gastgewerbe aussteigen will, sich gut informiert hat und eine ge­naue Vorstel­lung von einer Fortbildung in ein neues attraktives Berufsfeld hat, kann es trotzdem sein, dass er eine freigewordene Gastgewerbestelle be­set­zen muss,“ sagt Mag. Hofer, „so werden für die ArbeitnehmerInnen un­attraktive Arbeitsbedin­gun­gen perpetuiert und verfestigt und der Be­rufs­wech­­sel von ArbeitnehmerInnen erschwert.“
Ausgehend von der Situation, dass fast die Hälfte aller Arbeitsuchenden un­gelernte Arbeitskräfte sind, zugleich der Arbeitsmarkt sich umstrukturiert und andere Kompetenzen verlangt werden, rückt Bildung und Weiter­bil­dung stärker als je zuvor ins Zentrum der Arbeitsvermitt­lungspra­xis. Ein wichtiger Teil davon ist persönliche Bildung, Beziehungsarbeit, Coaching. „Bei un­se­ren Jugend­li­chen geht es zuerst einmal darum, sie dazu zu befähigen, für sich selbst wieder Handlungs­optio­nen zu sehen. Das passiert über Be­zie­hun­gen“, er­klärt Mag. Kunz. Das gilt auch bei erwachsenen Arbeitssuchenden in Seminaren und den notorischen Bewerbungstrainings: „Arbeitslosigkeit ist eine existentiell sehr bedrohliche Situation. Es gibt tatsächlich diese Fäl­le, in denen Menschen zuhause nicht erzählen, dass sie gekündigt wurden. So extrem wird die Existenzbedrohung empfunden. An­dererseits ist das Selbst­verständnis vieler Ar­beits­nehmer nach der Kündigung erschüttert. Wir erleben das gerade bei den ehemaligen Quelle-Mit­arbeitern, die sich sehr mit der Firma identifiziert haben. Nach der Kündigung folgte jetzt ein mit Trau­er, Wut und Unverständnis belegter Prozess. Da­zu kommt, dass Menschen, die Jahrzehnte an ei­nem Pos­ten beschäftigt waren, oft keine Ahnung ha­ben, wie der Arbeitsmarkt funktioniert und welche Mög­­lichkeiten ihnen offen stehen. Bis jemand zu dem Punkt gelangt, darüber nachzudenken, was er ma­chen will, und die Situation auch als Chance be­grei­fen kann, ist es meist ein langer Prozess. Aber das ist die Kunst, die Chance zu sehen und zu neu­er Energie zu finden.“

Ab 04. März wird im Theater Phönix das Outplacement-Kam­mer­spiel „Top Dogs“ von Urs Widmer aufgeführt. Es zeigt arbeitslos ge­wordene Alphatiere aus dem oberen Management in einem Neu­orientierungsseminar – und spielt mit der Fallhöhe von Königs­dramen. Im Grunde geht es aber um Menschen, die sich sicher und gebraucht fühlten und nun die Abhängigkeit von einem sich schnell ändernden Marktsystem zu spüren bekommen.

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FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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