Peripherie in der Pizzaschachtel

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Karin M. Hofer hat ein Spiel namens „Stadtrand Memory“ entworfen, das Bilder von der Linzer Peripherie zeigt. Entworfen wurden 18 Bildpaare von sechs KünstlerInnen mit Linzbezug, spielen kann man das Memory nach mehreren Varianten. Karin M. Hofer im Interview über Peripherie, Provisorisches und den Mythos des Alltäglichen.

Ich fand die Bezugnahme zur griechischen Mythologie interessant, die der Kul­tursoziologe und Stadtforscher Manfred Russo in seinem Beitrag im Be­gleitheft zu „Stadtrand Memory“ gemacht hat – zumal es dabei um bemerkenswerte Konstanten geht. Schon bei den Griechen gab es „das gute und göttliche Innere“, und das Äußere, wo böse Mächte und Dämonen herrschen. Übersetzen kann man das ohne weiteres mit einer zeitlosen „Topographie der Outlaws“, einer tiefen Melancholie der Übergangszonen oder den Hete­ro­tro­pien Foucaults, die die Ränder bestimmen … Zwischen den Griechen und Foucault hat sich natürlich auch noch einiges an Theorie abgespielt – und wie ich weiß, beziehen Sie sich auf Aby Warburg und Ernst Gombrich.
Karin M. Hofer: „Was mich als Kulturhistoriker interessierte, ...“ so sprach Aby Warburg in seinem Bericht über den Aufenthalt im Jahr 1896 bei den Pue­blo-Indianern, einen Vortrag, den er in der Klinik von Kreuzlingen 27 Jah­re später hielt. Dabei spricht er gegen eine zunehmende Spezialisierung der sich formierenden Disziplin Kunstgeschichte. (Wurde auch von ihr nie völlig anerkannt.) Er war offenbar feldforschender Ethnologe, Anthropologe, Re­ligionswissenschaftler, Kunsthistoriker Soziologe und Geograph in einer Person. Sein Gebiet – vergleichendes und interpretierendes Sehen über Epo­chen und Kulturen hinweg – nannte er „Ikonologie“. Mir selbst ist der As­pekt des ästhetischen „Feld-Forschens“ besonders wichtig, ich habe dabei die Möglichkeit, auf theoretische Arbeiten von ihm (Mnemosyne-Atlas), Pa­nof­sky, Gombrich, Berger aber auch Ariès/Duby, Bourdieu ... und viele An­dere zurückzugreifen. Ich versuche in all meinen Projekten zur „ÄSTHETIK des TÄGLICHEN“ mehrere Disziplinen und Aspekte des Lebens – in Form von Ausstellungen und Theorieheften – rezipierend und gestalterisch zu ver­binden ...

Ich habe bei Warburg als auch Gombrich ein Interesse an Kunstgeschichte und Psychologie nachgelesen: Speziell Aby Warburg, auf den sich Ernst Gom­brich ja später bezogen hat, sieht in den Kulturwissenschaften eine „kulturpsychologische Geschichtsauffassung“. Ihm kommt damit eine massive Neu­e­rung der Wissenschaft der Kulturgeschichte zu. Kann man sagen, dass War­burg in den 1920er Jahren z.B. eine Peripherie des Psychologischen (oder auch Mythologischen) in die Kunstgeschichte hereingeholt hat?
K.M.H: ... die Peripherie ... Ich würde sagen, dass Warburg sich selbst in seinem Forschen, in seinem Leben an der „Peripherie“ aufgehalten hat. Wobei (auch für mich) das Periphere das Spannendste überhaupt ist: Noch nichts klar definiert, noch alles provisorisch ... Auch die Psychologie ist ja für den Künstler als Person, für das „Kunstschaffen“ nicht unerheblich. Genauso wie Soziologie, Religion, technologische Entwicklungen. – Man kann nicht so tun, als ob der Bereich der hehren Kunst von allem Anderen unberührt wä­re ... Mein Gedankenmodell ist das eines Kreislaufs: Innovatives einmal nachgemacht wird epigonal und oft wiederholt trivial – wobei aus der Rum­pelkammer des Trivialen oft durch plötzliche „Einfälle“ der KünstlerIn wieder Innovatives entsteht. Exemplarisch zeige ich das anhand von „Fall­stu­dien“, wobei ein Objekt des Alltags aus dem Zusammenhang gerissen, in einen Kunstkontext gestellt und als Kunstwerk beschrieben wird. Dazu gibt es jeweils ein Themenheft, worin Fachleute verschiedener Disziplinen ihre (manchmal auch unkonventionelle) Sicht der Dinge beschreiben.

Stadtansichten oder Landschaftsbilder sind ein traditionell „schönes“ Sujet der Kunstgeschichte – weniger attraktive Straßenzüge oder „Gstettn“ wurden aber erst seit den 1920er Jahren bildwürdig, gemalt von KünstlerInnen der gerade entstandenen Großstädte. Können Sie einen kurzen Überblick über Bildmaterialien oder KünstlerInnen geben, die mit Adolf Loos gesprochen für ein Publikum mit „modernen Nerven“ gemalt wurden?
K.M.H: Stadtansichten gibt es in der europäischen Kunstgeschichte ja ge­nug: Ob jetzt topographische oder repräsentative Motive dahinterstecken ... Einige Aquarelle von Rudolf von Alt zeigen aber auch bisher unbeachtete Winkel und Ecken der Stadt ... (Die „Straßenbilder“ des Impressionismus kön­nen wohl auch nicht ganz unerwähnt bleiben ...) Doch die Darstellung auf den ersten Blick „unattraktiver“ Ansichten ist die Leistung der „Neuen Sachlichkeit“, wobei deren KünstlerInnen (wie Wunderwald, Dischinger, Mo­tesiczky, Pregartbauer, etc.) nun ausgedehnte Großstadtgebiete vorfanden, die es so vorher nicht gab. – Adolf Loos baut und schreibt für Be­woh­ner dieser urbanen Konglomerate. Natürlich muss man hier tradierte und persönliche Sehgewohnheiten hinterfragen: Warum erscheint ein Bild hässlich und ein anderes nicht? Um weiter bei einem Streifzug durch das Pe­ri­phere zu bleiben: Die fotografischen Abbilder ausgedienter Industrie­an­la­gen im Ruhrgebiet von Bernd und Hilla Becher hatten großen Einfluss auf das weitere Kunstschaffen, die Becher-Schüler wie Struth, Gursky, Ruff, Hütte, Höfer sind ebenfalls nicht unbekannt. In Wien sind unbedingt die frü­hen topographischen Foto-Arbeiten von Elfriede Mejchar (Wienerberg, Sim­mering, …) noch zu erwähnen – soviel zur Kunstgeschichte.

Von der „allegorisierenden neuen Sachlichkeit“ der 20er Jahre vollziehen Sie im Begleitheft von Stadtrand Memory einen Zeitsprung in die 1980er Jahre, wo sie unter anderen die bereits eben erwähnten Bechers mit „pathetischen schwarzweiß-Aufnahmen“ von Gewerbebrachen anführen. Also wieder „Pa­thos“, allerdings Pathos von Rand- und Zwischenzonen. In den neueren Ar­bei­ten von KünstlerInnen, die man dem Thema Peripherie zuordnen kann, schrei­ben Sie, geht es darum, dass „das Lapidare seinen adäquaten Aus­druck sucht, wobei – gestalterisch nicht einfach – das Banale gemeistert wer­den will“. Ist das die tatsächliche Ent­wick­lungs­linie: Überhöhung des Schönen – Sachlich­keit des Realen – Pathos von Zwischenzonen – Ba­nalität? … Ein trauriges Ende?
K.M.H: Nein, im Gegenteil: Gerade das scheinbar Banale oder Primitive hat der Modernen Kunst im­mer wieder wichtige Innovationen ermöglicht! Meiner subjektiven Meinung nach findet das Schöpferische eher im Ungesicherten statt als im Tradierten. Ich selbst bin von peripheren Stadt­gebieten absolut fasziniert. – Was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass ich auch beruflich mich einige Zeit in Gewerbegebieten und Stadt­rand­sied­lungen bewegen musste. Immer war ich neugierig: Was ist da vorne? Ums Eck? – Geographisch weiße Flecken, die niemals in einer touristischen Stadtkarte vorkommen würden. Ich war gewissermaßen Touristin in den Vorstädten österreichischer Landeshauptstädte ... Das Spannende an Pe­ripherien ist das Fehlen von Stadtplanung: Die latenten Möglichkeiten, die hier spürbar sind: Es liegen Gewerbegebiete (mit großen Parkplatz­flä­chen, auf denen als Naturersatz Felsbrocken liegen) neben Siedlungen an der Stadtautobahn (wo jeder Häuselbauer sich seinen Traum vom Haus erfüllt und all die Säulen, Balustraden, Erker und Türmchen eine postmoderne Kakophonie ergeben) neben „Gstätten“, wo zwischen Holler­bü­schen Ha­sen hoppeln ... Vergleichbar dazu ist das aufgeleg­te Memory-Spiel, wo die einzelnen Kärtchen zu­sam­menhanglos zu liegen kommen.

Bei Ernst Gombrich fand ich das Zitat „There really is no such thing as art. There are only artists“. Ich glaube, dass das zumindest teilweise auch Ih­rem Ansatz entspricht, da es das Bild umkehrt, dass KünstlerInnen lediglich die Kunst umkreisen, bzw. Kunstgeschichte auf sie angewandt wird? Ich frage das hinsichtlich der Aufbereitung von Stadtrand Memory, die die KünstlerInnen selbst zu ihrer Arbeit Stellung nehmen lässt; oder auch hinsichtlich ihrer eigenen Positionierung zwi­schen künstlerischen Schaffen, Wissenschaft und Kuratorenarbeit …
K.M.H: „… there is no such thing as art. …“ Er meinte wohl damit, dass es ohne „artist“ die „art“ nicht gäbe. Genauso wie ohne Iris Andraschek (rötliche Gewerbezonen-Träume), Walter Eben­ho­fer (Stilistik älterer Randzonen: Dornach), Josef Pausch (Cinemascope der Peripherie: Franck­vier­tel), Christian Nitsch (Einstürzende Neubauten: Sprengung Harter Plateau), Andrea Pesendorfer (Zufalls-Kritzelein en passant) und Beate Rath­mayr (Permutationen möglicher Begegnungen: Bushal­te­stelle) das Projekt STADTRAND-Memory nicht zustande gekommen wäre ... Deren Arbeiten und Ansichten des Sub-Urbanen waren für mich der Auslöser, diese Edition überhaupt zusammenzustellen. Ihre jeweilige künstlerische Auseinan­der­setzung mit dem Phänomen Stadtrand, was sie ab­bildenswert finden und warum, ist eine der wichtigsten Aspekte des Projekts. Daher bat ich sie für das Katalogheft um Statements zu ihren Arbeiten. Mein Beitrag dabei war nur, konzeptuell wieder einmal Innovatives (zeitgenössische Kunst) und Triviales (Memory-Spiel in einer Piz­za­schachtel) zu verbinden (gleichen doch städtische Speckgürtel von oben gesehen oft einem Piz­zabelag). Ich bin den KünsterInnen dankbar, dass sie das akzeptiert haben ...

Eine Detailfrage zum Schluss: Sie schreiben hin und wieder die Peripherie als „Periphärie“. Hat es damit was tiefgreifenderes auf sich?
K.M.H: Bravo, es ist Ihnen aufgefallen! Das war ein kleiner Stolperstein im Text (zusammengesetzt aus den Worten Prärie, Sphäre, Phänomen und pe­ripher), um die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken. Denn sonst, im Alltag nimmt man ja den Großteil dessen, was man sieht, nicht wahr. Bei meinen Ausstellungs-Projekten von „ÄSTHETIK des TÄGLICHEN“ geht es seit langem um aisthesis im Sinne von Wahrnehmung. Ich versuche da­bei, triviale Dinge des Alltags, wie beispielsweise Werbegeschenke oder Obstschachteln ikonologisch zu betrachten, mit Kunstgeschichte zu verbinden und so neu zu sehen. Dazu verwende ich das Modell eines KULTURELLEN KREISLAUFES, der innovative, epigonale und triviale Phasen durch­läuft und vom Trivialen wieder zum Inno­va­tiven springen kann ...

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01/10
FotoautorInnen: 
Karin M. Hofer

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